Im Jahr 1980, als ich siebzehn Jahre alt war, las ich den Ulysses in deutscher Übersetzung unter großen Schwierigkeiten und in mehreren Anläufen zum ersten mal. Ich konnte mir damals kein Buch vorstellen, das darüber hinaus geht. Von Finnegans Wake wusste ich nur vage, im Grunde wollte ich nicht davon wissen. Erst im Jahr 1998 begann ich, mir das Werk zu erschließen. Anfangs ging das mithilfe von Sekundärliteratur. Diese füllt weitaus mehr Seiten, als der Wake selbst. Ich stieß schnell auf die literaturwissenschaftliche Abhandlung mit dem Titel Vielfacher Schriftsinn von Klaus Reichert. Darin ist analysiert, wie die Satzstrukturen bis zum einzelnen Wort hin aufgebrochen sind. Die Rechnungen, wieviele Sprachen Eingang fanden, fällt unterschiedlich aus. Manche sagen, es seien achtzig bis hundert. Joyce hat sechzehn Jahre gebraucht, um es zu schreiben, von 1923 bis 1939. Er lebte, soweit ich weiß, in Paris, verlegte aber wegen der Besetzung von Paris durch die deutsche Wehrmacht im Jahr 1940, seinen Wohnsitz in die Schweiz. Er starb Anfang des Jahres 1941 in Zürich.
Während der Ulysses noch eindeutig übersetzbar war, ist das beim Wake trotz zahlreicher Bemühungen und Verrenkungen nicht mehr möglich. Viele Worte sind künstlich und weisen, da sie aus mehreren Versatzstücken zusammen gezogen sind, in unterschiedliche Richtungen. Tatsächlich gibt es kein vergleichbares Werk. Vermutlich nahm es die moderne Infomationstheorie vorweg. Aber darüber weiß ich zu wenig Bescheid. Zumindest ist es kein Buch, das als Ziel hat, den Leser auf herkömmliche Weise über etwas zu unterrichten oder ihn zu unterhalten. Viele sehen das letzte Kapitel des Ulysses, in dem der (vermeintliche) Bewusstseinsstrom von Molly Bloom aufgezeichnet ist, in den Wake münden. Das halte ich für viel zu kurz gegriffen. Finnegans Wake geht weit darüber hinaus. Die Sprünge zwischen den einzelnen Büchern von Joyce sind derart revolutionär, dass ich ihn lange Zeit nicht einmal für einen richtigen Schriftsteller hielt.
Die ersten Male, nachdem ich den Wake aufgeschlagen und zu lesen begonnen hatte, war ich spätestens nach eineinhalb Seiten eingeschlafen. Dann begann ich, mir Passagen laut vorzulesen und stellte überrascht fest, dass er musikalisch angelegt ist. Joyce hatte ein starkes Augenleiden, das rasch um sich griff und ihn Jahr für Jahr weniger sehen ließ. Daraus erklärt sich für mich die musikalische Struktur. Doch letztlich fasse ich Finnegans Wake, bildhauerisch gesprochen, als Steinbruch auf. Joyce stellt darin etwas zur Verfügung. Der Wake erschloss sich mir in vollem Umfang, als ich begann, zahlreiche Teile daraus Buchstabe für Buchstabe zu stempeln. Seither benutze ich Finnegans Wake in diesem Sinn. Mir geht dabei eine Suchmaschine, die im Jahr 2005 ins Netz gestellt wurde, zur Hand. Für jedes Wort oder für jede Wortkomposition, beispielsweise bee innerhalb eines Ausdruckes oder für Pflanzennamen, zeigt es eine bestimmte Anzahl von Treffern an.
Von Joyce selbst gibt es übrigens eine kurze Lesung aus dem Anna-Livia-Kapitel. Man hatte ihm die zu lesenden Teile in großen Lettern gedruckt, da seine Sehfähigkeit längst nachgelassen hatte und er damals bereits kaum mehr in der Lage war. Er trägt den Text vor, als sei er ein munteres Bächlein, das flink und rhythmisch über Steine hüpft. Joyce hatte eine Bariton-Stimme und veranstaltete im Kreise von Freunden und Familie häufig Gesangsabende.
Während ich mit einer etwa 8 mm großen, halbfetten Helvetica zahlreiche Abschnitte aus Finnegans Wake stempelte, den Bedeutungen in Wörterbüchern und sogenannten Shorthands nachspürte, wochenlang nichts anderes tat und schließlich eher ein Provisorium, als eine Arbeit zustande brachte, das jedoch 40 oder 50 Blätter im Maß 20 cm mal 40 cm auf gestrichenem Papier umfasste, betrat meine damalige Freundin das Atelier und sagte: „Ich finde diese Arbeit nicht gut, aber ich weiß, warum du das tust.“
John Cage sagt: „Finnegans Wake ist das einzige Buch, das ich immer geliebt, aber nie gelesen habe.“