Edition Karbit


Leonardo von Pisa, das steht bereits an anderer Stelle, war ein bedeutender italienischer Mathematiker und stammte aus dem Dreizehnten Jahrhundert. Sein Vater war Händler und nahm ihn auf Reisen durch den arabischen Raum mit. Später studierte Leonardo in Nordafrika. Seine bedeutendste Leistung war der Import des arabischen Zahlensystems, in dem die Zahl Null vorkam und mit dem sich erstmals auf moderne Weise rechnen ließ. Allerdings war diese Art von Indien, von den Hindus aus, in die islamische Welt gelangt, weshalb er sie als „Zahlen der Inder“ bezeichnete.

Leonardos frühe Schriften, die nicht erhalten sind, werden indessen von anderen zitiert.
Eine seiner mathematischen Beschreibungen (die sowohl den Indern, als auch den Griechen bereits bekannt war) wird heute die Fibonacci-Folge genant. Fibonacci ist ein anderer Name dieses Leonardo. (Figlio di Bonacci). Er veranschaulichte die Reihe mithilfe von Kaninchen, die sich rasant vermehren. Es handelt sich um jene Zahlenfolge, die in der Ausstellung I Due Leonardo aus dem Jahr 2006 bereits verwendet wurde. (In meiner Arbeit werde ich ständig auf sie gestoßen.) Sie nähert sich der Teilung durch den Goldenen Schnitt umso genauer an, je weiter sie fort schreitet, erreicht ihn jedoch nicht. Als Fibonacci sein Beispiel einbrachte, handelte es sich nicht um biologische Kaninchen, was für Verwirrung sorgte und dazu führte, dass man ihn (aus den falschen Gründen) widerlegte. Jedoch gibt es ein genetisches Vermehrungsbeispiel bei den Bienen, das damals keinem einfallen konnten, weil man noch keine genauen Kenntnisse über sie besaß. Im Stammbaum der Drohnen liegt die Fibonacci-Reihe unbestritten vor. In diesem Fall, dem genetischen Verhältnis, sind Königinnen und Drohnen gemeint, während der Stammbaum der Arbeiterinnen wohl ebenfalls einer Fibonacci-Reihe gehorcht, allerdings zeitlich versetzt. Übrigens ist bei einer Menge anderer natürlicher Wachstumsmuster, Tannenzapfen oder Muscheln oder eben Sonnenblumen, die Reihe sichtbar.


Bei den Drohnen ist, wie ich fand, das zeitlich Hindernis nicht ausreichend berücksichtigt. Drohnen treten im Bienenjahr zu kurz auf und die Vererbungsfolge wird daher nur im Ansatz veranschaulicht. Das ändert jedoch nichts an der Richtigkeit des Beispiels.

Fehlt in einem Bienenvolk die Königin über längere Zeit, können einige Arbeiterinnen dazu kommen, Eier zu legen. Da sie aber nicht befruchtet wurden, schlüpfen nur Drohnen daraus. Man erkennt das zunächst daran, dass mehrere Eier ungeordnet am Boden einer Zelle stecken, manchmal auch seitlich. Und da die Zellen der Drohnen größer sind, modellieren die Bienen ganze Waben um. Wird das Problem schlimmer, nennt man das Volk drohnenbrütig. Es gibt wohl Abhilfe, wie ich gelesen habe. Doch ich löse solche Völker auf, indem ich sie hinter dem Bienenstand ins hohe Gras schüttle. Die Bienen betteln sich dann bei Nachbarvölkern ein und die provisorischen Königinnen verenden im Gras. Eine Biene, falls sie Honig in ihrem Magen mitbringt, wird von den Wächterinnen, die am Eingang eines anderen Volkes sitzen, eingelassen. So habe ich es von Franz gelernt. Daher räuchert man Völker, die man aufzulösen beabsichtigt, beispielsweise zu kleine Ableger, bei denen sich das Einwintern nicht lohnt, vorher kräftig ein, damit die Bienen zu ihren Honigtöpfen getrieben werden und sich dort vollfressen.

Spätestens ab der Edition formulierte sich in mir eine Frage, die ich nicht lösen konnte. Die Drohnen sind unbestreitbar der männliche Teil innerhalb des Bienenkörpers. Sie suchen keinen eigenen Nektar, sondern lassen sich im Stock mit Honig füttern. Sie sind daher kaum vor dem Stock zu finden, strecken höchstens einmal die Köpfe zum Flugloch heraus. Sie haben keinen Stachel, sind aber anatomisch im Wesentlichen den Arbeiterinnen gleich oder zumindest ähnlich. Sie sind Bienen. Sie sind für die Befruchtung einer jungen Königin aus einem anderen Volk zuständig. Dazu krabbeln sie aus dem Stock und schwingen sich hoch in die Luft und finden ohne vorherige örtliche Kenntnisse die Sammelplätze. Dort erreichen aber nur diejenigen von ihnen, das sind dann etwa drei oder vier, die wohl aus verschiedenen Völkern stammen und die der Königin am weitesten in die Luft hinauf folgen können, ihr Ziel. Das ist die Begattung, und zugleich bedeutet es den Tod, da der Begattungsapparat bei diesem Vorgang heraus gerissen wird. Ansonsten lungern die Drohnen ab April im Inneren des Stocks herum und werden ab der Sonnwende hinaus gedrängt, wo sie verhungern, oder sie werden im Inneren abgestochen. Sie können (wie die Königinnen) wegen ihrer dickeren Hinterleibe nicht durch die Absperrgitter in die Honigräume gelangen. Manchmal stecken sie abgetötet zwischen den Stäben der Gitter. Man nennt es die „Drohnenschlacht“, womit wohl eine Schlachtung gemeint ist. Unsentimental betrachtet ist es ein Entschlackungsvorgang. Das Volk wird schlanker, es bereitet sich darauf vor, mit den bis zu diesem Zeitpunkt angetragenen Futtervorräten über den Winter zu kommen. Was die Funktion der Drohnen ist, wurde hinreichend geklärt, dass sie nur ein Vierteljahr im Stock verbringen, ebenfalls. Da sie aber nur zwischenzeitlich hervorgebracht werden, kommen sie mir wie eine vorübergehend männliche Ausstülpung des Bienenkörpers vor. Genauer formuliert, könnte man sie als kurzfristig männlichen Anteil innerhalb eines rein weiblichen Systems bezeichnen.



Mitte Dezember des Jahres 2017 fand die Edition Karbit in der Galerie Heufelder statt und ich war neben einem Haufen anderer Künstler, von denen ich zahlreiche kannte, zur Teilnahme eingeladen. Die Galerieräume liegen nahe des Ateliers, das ich bewirtschaftete, nur auf der anderen Straßenseite. Das Verbindende zwischen den Künstlern war kein Thema, sondern das Format. Man sollte jeweils drei gleiche Blätter vorlegen, alle im Maß 22 Zentimeter mal 32 Zentimeter, hochkant oder quer. Eines dieser Blätter wurde dann gerahmt und aufgehängt. Das Format empfand ich als unglücklich, da es so nahe am DIN A 4 liegt. Ich mühte mich im Atelier daran ab, stempelte und wurschtelte, wobei unentwegt Ausschuss entstand. Zwar wurde ich rechtzeitig damit fertig und brachte eine passable Version zustande, doch erstaunte mich, wie stark meine Arbeit beeinträchtigt wurde oder zum Erliegen kam, wenn das Format vorgeschrieben war. Letztlich stempelte ich den Stammbaum der Drohnen. Damit ließ ich es bewenden. „Drohnen haben keinen Vater“, dieser einfache Satz ist, man muss es so sehen, die Zusammenfassung des Problems.

in bocca al lupo

Vortrag in der Akademie der Bildenen Künste München

Gegen Ende Juli wurde ich von Katharina Deml angerufen und gefragt, ob ich bereit sei, ungefähr im Dezember eine Art Vortrag zu halten mit dem Thema, wie es früher an der Akademie gewesen ist, von der Baracke, dem Garten, der Bienenhaltung, dem Honig, der Herstellung wertvoller Nahrung und so weiter. Mein Beitrag sollte, wie wir entschieden, auf einen der Gartenarchitektin, die den grünen Raum im Akademiegelände umgestaltet hat, abgestimmt sein. Die Dame ist nicht mehr eingeladen oder sie hat abgesagt, das weiß ich nicht. Daher sitzen wir nun ohne sie hier. Weiter befragte ich mich, ob es für Sie von Bedeutung ist, wenn ich direkt und chronologisch von meinem Leben erzähle. Denn es sind meine persönlichen Eindrücke und andere sind sicher zu anderen gekommen. Ich wog zwei Formen gegeneinander ab. Schließlich entschied ich mich für einen Kompromiss. Ich berichte Ihnen ein wenig von meinem Werdegang, und ich beziehe mich auf die fraglichen Punkte. Zunächst kurz zum Titel : in bocca al lupo. Das heißt, wenn man es wörtlich übersetzt: im Maul des Wolfes, und man könnte sich fürchten. Ein italienischer Bildhauer, der nicht Deutsch spricht, sagt mir das zu Einladungen, die ich ihm schicke. Er meint damit in etwa: viel Glück oder Hals- und Beinbruch. Doch es ist, wie mir eine Italienerin erklärte, entgegen der deutschen Logik die Bezeichnung für den sichersten Ort der Welt. Denn wo könnte man sich besser beschützt fühlen als dort?
Ich hole weit aus. Anfangen möchte ich mit dem Berufsgrundschuljahr Schreiner, das ich vor der Akademie absolvierte, in der festen Absicht, entweder Schreiner oder Treppenbauer zu werden. Zu Beginn der Lehrzeit sucht man sich eine Lehrstelle, in der man nach dem Ende dieses ersten, schulischen Jahres arbeitet. Diesen Platz hatte ich bei einem Schreiner, Bauschreiner und Treppenbauer gefunden. Ich verwendete es später als die neun Monate Praktikum, die man an der Akademie vorausgehend absolviert haben muss. Die Werkstatt, die ich erspäht hatte, liegt in Ammerland am Starnberger See. Die Lehrzeit hatte ich mir dadurch traumhaft vorgestellt. Zunächst wollte ich nicht Künstler werden. Oder ich wusste nicht, dass ich es wollte. Damals, während dieses ersten Jahres, wohnte ich in Wolfratshausen. Hinter dem Wohnhaus ging es gleich den mit Buchen bestandenen Berg hinauf. Dort war ich während der freien Wochenenden unterwegs und baute aus Ziegelsteinen, die ich von Baustellen geklaut hatte, kleine Brennöfen. (Es ist ein Witz, wenn behauptet wird, in Wäldern dürfe man keine Feuer machen, es bestünde Waldbrandgefahr.) Von diesen winzigen Meilern aus Ziegeln knipste ich eine Reihe Fotos. Manchmal brannte ich auch modellierte Tonklumpen darin. Am Ende des Berufsgrundschuljahres ging ich erneut zu der Lehrstelle, um mich quasi zurückzumelden. Der Meister teilte mir aber mit, mit Scham im Gesicht, dass er die Stelle dem Sohn des Bruders habe abtreten müssen. Nun stand ich da und hatte nichts außer einem Mann, der um Worte rang und dem es Leid tat. Natürlich versuchte ich mit aller Kraft, eine neue Stelle zu finden, kam auch mehr schlecht als recht irgendwo unter, aber der Traum war zerplatzt. Daher dachte ich, da ohnehin alles wurscht war, könne ich mich auch an der Akademie bewerben. Dort war es Usus, in einer Mappe geordnet, seine Bewerbungsunterlagen vorzulegen, und sich für zwei Professoren zu entscheiden. Denn wurde man vom einen nicht genommen, konnte man vielleicht zum anderen. Das hielt ich nicht so. Ich pfefferte die paar Fotos von den Brennöfen und einige ziemlich schlechte Zeichnungen in eine alte Mappe, die mir aus der Schulzeit geblieben war. Die Mappe hatte sogar einem anderen gehört, einem Freund von mir, dessen Namen strich ich provisorisch durch und setzte meinen dagegen hin. Und ich schrieb nur einen weiteren Namen drauf, nämlich den des Professors, den ich kannte. Alles andere war mir zu blöd, und ich war der Akademie gegenüber zu gleichgültig, um mich näher zu informieren. Im Übrigen hatte ich einige Schüler von Professor Heribert Sturm und ihn selbst bereits auf einer Klassenfahrt nach Italien begleitet. Warum nicht gleich er?, fragte ich mich. Danach wurde ich zu einem Gespräch in sein Atelier im Keller des Haupthauses bestellt. Dort sprachen wir über dies und das, unter anderem, dass ich geraume Zeit im Hunsrück gelebt hatte und einmal pro Woche nach Düsseldorf getrampt war, um die ehemalige Klasse Beuys in Raum drei der dortigen Akademie zu besuchen. Dort fand wöchentlich ein sogenanntes Ringgespräch statt, das Johannes Stüttgen leitete. Von diesem Umstand zeigte sich Heribert Sturm beeindruckt. Die Öfen fand er ebenfalls großartig. Nur die Zeichnungen, die, wie gesagt, schaurig waren, ließen wir außer acht. Der Bauch von Heribert wölbte sich weit vor, sein Bart und seine Haare standen ihm ungeheuer vom Kopf ab wie einem Waldschrat. Er saß vorn auf der Stuhlkante, da er nicht groß war, und seine Oberschenkel wiesen leicht nach unten. Er hatte also meine Mappe dort liegen und auf einmal rutschte alles fort und klatschte auf den Boden. Worauf wir lachten. Im Nachhinein glaube ich, dass dies der Augenblick war, an dem er entschied, mich in seine Klasse auf zu nehmen. Er sagte mir auch mehr oder weniger gleich zu. Ich wurde auch nicht gefragt, wie ein Freund von mir, warum ich Künstler werden wolle. Auf diese Weise, ohne es gewollt zu haben, landete ich an der Akademie. Die Akademiezeit dauerte von den Jahren 1987 bis 1994.
Dort wusste ich während der ersten beiden Jahre kaum, was zu tun war. Es dauert meistens ein oder eineinhalb Jahre, bis man sich fängt. Im ersten Herbst, als erste Tat, pflanzte ich mit einem Kollegen einen Kirschbaum im Barackengarten. Bäume hatte ich bereits gepflanzt und wusste, wie das ging. Ich fuhr in eine Gärtnerei und kaufte einen auf Hochschnitt getrimmten Baum, der gepfropft war und etwa einen Meter achtzig maß. Über den nächsten Sommer hin mickerte das Bäumchen und im kommenden Herbst war es eingegangen. Das gab mir eine erste Information über die mögliche Bodenbeschaffenheit. Ansonsten besuchte ich Klassenbesprechungen und fragte mich, was dort besprochen wurde. Dann ging ich in andere Klassen. Beispielsweise versäumte ich kaum eine Besprechung in der Klasse Spoerri. Dort wurden, wie Beuys es ausgedrückt hatte, Namen und Begriffe genannt. Das heißt nicht, dass ich den Diskussionen ganz folgen konnte oder wirklich verstand, warum die eine Arbeit besser war und es der anderen an etwas mangelte. Wahrscheinlich hätte ich in diese Klasse gewechselt, wenn nur Spoerri länger an der Akademie geblieben wäre. Aber das war nicht der Fall. Also ging ich wieder hinunter in die Baracke und versuchte, ein Anliegen zu finden. Denn darum geht es letztlich und das ist das Schwerste. Die Baracke hatte eine U-Form. Ich weiß nicht, seit wann unsere Baracke bestand, vielleicht hatte man nach dem Zweiten Weltkrieg eine Menge zerbombte Dachstühle abgerissen und sie auf diese Weise einer neuen Verwendung zugeführt. Das habe ich aber nie geprüft. Manchmal werde ich von einem Historiker gefragt, ob sie ursprünglich für Kriegsflüchtlinge errichtet worden war. Das kann ich nicht beantworten. Unsere Klasse war in einem der langen Streifen untergebracht, im anderen die der Klasse Dengler. Dazwischen waren der Akademieladen voller Leinwände, Farben und Pinsel, dazu Klassenräume der Denglers. Drüben wurde gemalt, weshalb wir mit ihnen nicht allzu viel zu tun hatten. Uns nannte man die Tonbatzler. Es war schon so, dass man vom Haupthaus ein wenig abschätzig auf uns herab sah, als liefen die dort oben mit einem goldenen Zahnstocher im Mund herum und wir wären die Erdnuckel. Dabei war es genau genommen umgekehrt. Wir hatten viel mehr Platz als die, da die Baracke in lauter kleine Zimmer unterteilt war. Wir hatten etwa 10 Räume. Außerdem, wie gesagt, hatten wir den Garten vor der Tür. Unsere Besprechungen fanden häufig in unserem größten Raum statt. Er war nach oben offen und man sah das Gebälk. Heribert, der während der Sechziger Jahre bei Heiner Kirchner studiert hatte, erzählte eines Tages, dass dieser Raum die ehemalige Mensa gewesen sei, durch eine Luke, die noch vorhanden war, sei das Essen ausgegeben worden. Schon damals übrigens hieß es mindestens einmal pro Jahr, die Baracke werde abgerissen. Das geschah letztlich aber erst Ende des Jahrhunderts. Die Baracke, mehr noch als die Akademie damals, gestattete einem Studenten so ziemlich alles. Einmal beispielsweise hatte ich in einem Container ein dreiteiliges Fenster gefunden, das größer war, als das in meinem Raum. Folglich fischte ich es heraus, lagerte es ein und wartete das Wochenende ab. Dann nahm ich die große Klassenflex und schnitt damit einen vergrößerten Fensterausschnitt. Das alte Fenster fiel mir entgegen und ich entsorgte es in demselben Container. Das neue setzte ich ein und putzte es mit Zement fest. Außerdem fügte ich außen noch ein kleines, schräges Fensterbrett aus Schnellzement hinzu. Montag vormittags standen prompt drei Hausmeister draußen im Garten und sagten, das Fenster sei doch neu, es sei auch größer als die anderen und so weiter. Ich ging hinaus, stellte mich dazu und schaute interessiert. Dann behauptete ich, das sei schon lange so, ich sei seit Jahren hier und nichts habe sich verändert. Sie murrten und schoben ab. Später mauerte ich mein Zimmer zu, da es zu einem anderen hin offen war, setzte einen Rahmen und hängte eine Tür ein. Die konnte ich abschließen. Auch bestimmte Nischen ließen sich sägen, wenn man wollte. Michael Krause, den manche kennen, hatte in seinem Raum einen Teil des Bodens heraus gerissen. Es waren ohnehin nur einfache, etwas dickere Fichtenbretter. Anschließend hatte er gegraben, soweit er gekommen war. Dank Michael Krause erhaschte ich einen Blick auf das Fundament. Es bestand aus Betonträgern, die quer zum Haus in die Erde gesteckt waren. Die Baracke lag um etwa drei Treppenstufen erhöht. Die Bausubstanz erklärte ich mir so, dass man irgendwelchen Bauschutt grob gehäkselt und mit magerem Zement gemischt hatte. Buckminster Fuller, der berühmte amerikanische Erfinder und Architekten, hatte 1922 als junger Mann mit seinem Schwiegervater eine Baufirma gegründet. Sie bauten ein paar hundert Häuser, die sich völlig glichen und stockade hießen, was in etwa Palisadenzaun bedeutet. Sie bestanden aus Leichtbausteinen aus Stroh, die mit Zement gemischt waren. Die Häuser der Stockade Building Corporation bestanden aus einem ähnlichen Prinzip, nur dass dort, fast wie aus Tuffstein geschnitten, große Blöcke zuerst gegossen und dann versetzt gemauert waren und vielleicht alle achtzig Zentimeter ein rundes, senkrechtes Loch freigaben, quasi eine Stange in der Wand. Da hinein wurden anschließend Betonstützen gegossen. Das Stroh isolierte und die Betonstangen waren für die Armierung zuständig. Auch die Stockade Buildings lagen etwas erhöht. Fuller unterrichtete später mit Cage, Tudor, Albers, de Kooning und all den anderen Helden am Black Mountain Collage. Unmittelbar nachdem ich an die Akademie gekommen war, fand das Examen für die Abgänger statt. Einer hatte in einem unserer Räume einen Haufen schwarzen Gießereisand ausgebreitet und darin irgendwelche Kanäle geformt. Im Garten davor schmolz er Aluminium. Er musste dazu ein mächtiges Kohlenfeuer unterhalten, denn Aluminium schmilzt erst bei etwa 650° C. Er goss es auf den Sand. Allerdings verschätzte er sich, es floss seitlich aus und setzte den Holzboden in Brand. Es gab große Aufregung, da er fast die Baracke abfackelte. Aber schließlich war ein Feuerlöscher zur Hand. Wir hingegen hatten dafür jahrelang mit dem feinen, beharrlichen Löschstaub zu kämpfen. Im Haupthaus verwirklichte der Pyromane ebenfalls eine Gussplastik, allerdings aus Blei. Er flexte zwei senkrechte Schnitte in die Wand, und es fiel ein drei kantiges Stück, das sich nach unten verjüngte, heraus. Und er setzte ein längliches Aluprofil hochkant davor, es sollte so etwas wie eine stehende, vierkantige Figur zeigen. Oben auf den Zimmerchen der Baracke, die etwa Zweimeterfünfzig hoch waren, saß ein vergleichsweise spitzes Dach, dessen Gerüst aus dünnen Fichtensparren gezimmert war. Mittig konnte man stehen, aber seitlich verlief kein Kniestock. Man gelangte über eine Treppe hinauf, allerdings versperrte oben eine abgeschlossene Tür den Zugang. Wir mussten erst jemandem den Schlüssel abluchsen. Ich kann mich aber nicht erinnern, wer das war. Der Speicher, wie wir schnell heraus fanden, taugte, um alte Plastiken zu verklappen. Die Firma Schwegler, das als Einschub, stellt unter anderem Hummelkästen her. Sie führen für fast alle Tiere, die im Freien leben, für Spechte, Hornissen, Igel, und so weiter, Behausungen. Die alle bestehen aus sogenanntem Holzbeton. Tatsächlich wird da feuchtes, sehr fein gehäkseltes Holz mit Zement vermischt und in eine Form gepresst. Von Gießerei kann man nicht mehr sprechen, sonst hätte ich es längst aufgegriffen. Oben auf dem Korpus liegt ein schwerer Deckel und innen, knapp unterm Rand läuft ein Absatz, in den man ein Brett legt, um die Temperatur im Sommer zu regulieren. Das Material ist aber kalt und schwer und unangenehm anzufassen. Da Hummeln nur Sommervölker bilden und in Kuhlen von Sägespänen leben, finde ich es einigermaßen tragbar. Bienen würde ich darin nicht überwintern wollen. In Bezug auf unseren Garten gab es übrigens einen Unterschied zum restlichen Akademiegarten. Die Hausmeister betraten ihn so gut wie nie. Er war unser Reich und wir machten dort, was uns passte. Der Rest interessierte uns nicht. Ich trieb mich manchmal im Restgarten herum, konnte aber für die offensichtliche Idylle nur mäßige Begeisterung aufbringen. Hinten lag das Haus, wo Robin Page, den alle Käpt´n Blaubart nannten, mit seiner Frau und seinen zahlreichen, riesigen, schwarzen Hunden wohnte. Ich glaube, es waren Neufundländer. Einmal sah ich ihn an der Einfahrt von der Akademiestraße her, innen am geschlossenen Tor, und er lungerte mit diesen langhaarigen, friedlichen Monstern herum, die überall hinschissen. Es gab da seitlich ein Fußgängertor und er bat mich in Zeichensprache, hindurch zu huschen und das Tor schnell hinter mir zu schließen. Er zuckte entschuldigend mit den Schultern und sagte: „Walking the dogs.“
Die Bäume des Hauptgartens waren schön, der winzige Teich vor der Kunststoffwerkstatt war künstlich, er mutete asiatisch an und er vermooste zunehmend. Hinter dem Teich lag ein dichtes Gebüsch. Darin hatte geraume Zeit vor mir jemand Bienen gehalten. Das sagte Franz. Franz war Franz Wagner, einer der Hausmeister. Er wurde mir im Lauf der Zeit ein hoch geschätzter Freund, und von ihm bekam ich schließlich meine ersten Bienen. Wirklich schön fand ich die große Fläche der Blausterne jedes Jahr Anfang April. Das sind etwa zwölf Zentimeter hohe, tiefblaue Blümchen mit Blütentrauben. Sie lieben feuchten Boden und ihre Samen werden durch Ameisen verschleppt. Die Fläche erstreckte sich über die leicht geschwungene Wiese zur Leopoldstraße hin. Unseren sogenannten Privatgarten gruben wir ständig um, man musste höllisch aufpassen, dass man nicht plötzlich in ein zugewuchertes Loch fiel. An der Mauer zum Hauptraum breitete sich Herkuleskraut aus. Das ist ein mannshohes, giftiges Doldengewächs, mit kreisrunden, weißen Blütenflächen, so groß wie ein Panamahut, die aus lauter kleinen Einzelblüten bestehen. Es bietet eine hervorragende Nahrung für Bienen. Es wird nicht gern gesehen, aber wir taten natürlich einen Teufel und ließen es beliebig wuchern. Eines Abends nach einer Jahresausstellung veranstaltete unsere Klasse ein großes Fest. Ein früherer Student hatte einen vier Meter breiten Krater gegraben und den Aushub als Rand aufgeschüttet. Obenauf hatte er ein provisorisches Dach gesetzt. Es bestand aus drahtenen Seilzügen, die dünne, breite Bretter aus Tropenholz, etwas dicker als Furnier, zu einer provisorischen Kuppel spannten. Diese mangelhafte Plastik ging mir vom ersten Tag an auf die Nerven. Während des Festes machten wir ein kleines Feuer am Grund des Aushubs. Dann entschieden ein Freund und ich, dass es genug sei mit der Kleinkrämerei, wir hoben das Dach an, drehen es um und legten es in den Krater. Kurz danach fing es Feuer und eine Stichflamme schoss empor. Daraufhin wieder riefen Bewohner der Türkenstraße die Feuerwehr. Die rückte mit Blaulicht und fünf Löschzügen an. Das Tor war aber verschlossen und sie kamen nicht in den Garten. Daher rannten sie panisch draußen herum und kletterten schließlich von der Türkenstraße her über den Zaun, der nach oben hin ja Spitzen hat. Sie zo - gen einen endlos langen Schlauch hinter sich her, und suchten festen Tritt entlang der Böschung zum Krater hinauf. Das Feuer war da längst herunter gebrannt. Dann gaben sie „Wasser Marsch“ und hielten sich am Schlauch fest wie die „Sieben Schwaben“. Sie standen da mindestens eine halbe Stunde, das Feuer war dreimal ertränkt, aber sie pullerten weiter und ließen den ganzen Aushub voll laufen. In einem Spätsommer, wurde der alte Häuserblock an der Panzerwiese, wo ich damals wohnte, abgerissen. Ich hatte vereinbart, in eine Wohnung in der Lothringer Straße ziehen zu können. Doch das Zimmer dort sollte erst vier Monate später frei werden. Da beschloss ich, es eben mit den Eltern, die ich jahrelang gemieden hatte, noch einmal zu versuchen. Doch nach zwei Tagen hatte ich bereits genug und schlief auf einem aufklappbaren Feldbett in der Akademie. Erst blieb ich im Garten, dann, als es kalt wurde, ging ich in meinen Raum. Das wurde eine seltsame Erfahrung. Denn die Akademie damals war eine Insel mitten in der Stadt. Dort zu schlafen, dann morgens in die Cafeteria zu tappen, um den ersten Caffé zu schlürfen, dann vielleicht mittags dort zu essen und abends dort zu saufen, ließ einen binnen einer Woche den Bezug zur Realität verlieren. Wenn ich nicht bei Freunden auf der Couch schlafen konnte, saß ich in der Akademie fest, und nach vier Monaten reichte es mir ziemlich.
Zu unserem Garten fällt mir noch eine Menge ein. Die Klasse Dengler beispielsweise hatte dort nur einen winzigen Platz entlang ihrer Klassenräume für sich beansprucht und ein Gemüsebeet angelegt. Es wuchsen Salatköpfe und Karotten und ein paar Kräuter. Ich stand diesen Beeten kritisch gegenüber. Der Boden, schien mir, war verdorben und ich hätte nichts davon gegessen, vor allem nicht Salat. Übrigens ist so ein Projekt in diesem Jahr im Rosengarten am Schyrenbad, wo seit 20 Jahren meine Bienen stehen, zu Ende gegangen. Man hatte Nutzern je zwei Quadratmeter für einen Sommer vermietet. Dann stellte sich jedoch heraus, vor kurzem erst, dass dieser Boden, der zuvor zum Abfallwirtschaftsamt gehört hatte, kontaminiert ist. Seither ließen die Leute, die zuvor eifrige Esser gewesen waren, ihr Gemüse und ihre Kräuter ausblühen. So stelle ich mir auch den Kräuteranbau im Akademiegarten vor. Man muss erst den Boden prüfen. Anders ist es bei bestimmten Formen des Guerilla-Gardenings, bei dem man nur Pflanzensamen über Zäune streut ohne den Wunsch, die Saat zu essen. Ein Freund hatte Schlafmohn kultiviert und dessen Samen geerntet und wir warfen ihn in allerlei bürgerliche Gärten, wo er aufging und seine schönen Blüten entfaltete. Ein anderer Freund war Bauer oben im Hunsrück bei Idar-Oberstein, der alten Steinschleiferstadt. Er legte jedes Jahr große Maisfelder an und ließ in deren Mitte runde Flächen frei, auf denen er Gras anbaute. Das rauchten wir dann. Sein Ackerland hatte früher als Abraum für nicht nutzbare Edelsteine gedient. Man hatte das Zeug einfach dort hin gekippt. Gelegentlich pflügte er beispielsweise einen brasilianischen Rauchtopas auf und ohnehin alle Arten von billigen Kristallen, Zitrite, Rosenquarze, Amethyste und so weiter. Er sammelte sie auf seinem Fensterbrett. Edgar Stein, auch aus der Klasse Dengler, mit dem ich später in Straubing im ehemaligen Schlachthof, viel zusammen saß, hatte im Barackengarten seine Boote gelagert. Er flexte dazu Öltanks auseinander und kalfaterte sie. Dann transportierte er sie nach Straubing, wo die Donau fließt. Er schraubte einen Außenborder dran, ließ sie zu Wasser und kurvte herum. Sozusagen als Fortsetzung schweißte er sich aus gebogenen Stahlstangen runde Steuerräder, die über Seilzüge den Außenborder bewegten. Im Barackengarten reparierte ich mehrfach mein Auto, einen roten R4. Ich bockte den Wagen mit Ziegelsteinen hoch auf, dann kroch ich darunter und wechselte beispielsweise die Bremsbeläge oder setzte eine neue Kupplung ein. Einmal schlenderte Stefan Lehnerer vorbei, der zu den ersten Studenten in unserer Klasse gehört hatte und damals so etwas wie ein Mythos war. Vielleicht war er auch kein Mythos, aber eine Besonderheit. Er bemerkte, das Auto im Garten sei die beste Plastik. Damals war ich längst in der Bildhauerei angekommen und dachte: „Vor so schnell hingeworfenen Bemerkungen muss man sich hüten.“ Überhaupt aber fuhr ich öfters mit dem Auto in unseren Garten hinein. Es gab eine Auffahrt und man musste sich, hinter den Abfallcontainern vorbei, durch den üppigen Bewuchs hindurch schlängeln und die vielen Löcher im Boden und die Eisenstücke, die scharfkantig heraus ragten, umkurven. Gelegentlich lieferte ich Sand oder Kiesel von der Kippe in Riem an. Der Wagen war ausgelegt für etwa 300 kg Zuladung und ich beförderte mindestens 600 kg. Dadurch ragte der Kühler des Wagens hoch wie bei einem Rolls Royce. Die Ladung schaufelten wir durchs Fenster in den großen Raum. In unserer Klasse wurde zunächst viel in Ton gearbeitet. Auch ich hatte damit begonnen, bis ich fest - stellte, dass das nichts für mich war. Die nächste Generation der Studenten entdeckte das Gießen. Es gab natürlich Übergangsgenerationen. Ich glaube, ich gehörte zur zweiten oder zweieinhalbten. Das Gießen wurde für mich das Eigentliche. Vor allem im ehemaligen Schlachthof in Straubing, der offiziell eine Dependance der Akademie sein sollte, aber eigentlich unserer Klasse gehörte, gossen wir wie die Wilden. Die Palette reichte von Gips und Zement über verschiedene Wachse zu Schwefel zu Blei, Zinn, Zink und Aluminium bis hin zu Eisen. In Straubing bauten wir tatsächlich einen Kupolofen, einen professionellen Eisengussofen, den wir mehrmals benutzten. Nur Bronze ließen wir aus. Es ist ein überfrachtetes, traditionsbehaftetes Material. In Straubing saßen wir abends oft zu dritt oder viert in der Küche, kochten und soffen uns grandiose Räusche an. Übrigens unterhielten wir enge Beziehungen zur Klasse Kornbrust. Viele meiner Freunde studierten bei ihm. Vor Kurzem habe ich gelesen, dass Heiner Kirchner, der Professor meines Professors, zunächst die Gusswerkstatt geleitet hatte und dann in den Rang eines Professors erhoben worden war. Beim Bronzeguss hatte er das uralte Wachsausschmelzverfahren neu entdeckt. Seltsamerweise hatte ich Heiner Kirchner kennengelernt, als ich etwa 18 Jahre alt gewesen war. Damals wusste ich noch nichts. Ich zeichnete wohl viel, aber das war auch alles. Heiner Kirchner war damals bereits ein alter Mann, der in seiner Werkstatt stand und freundlich mit mir sprach. Später bekam ich aus seinem Nachlass einige Bände der frühen bienenkundlichen Werke von Enoch Zander, einem berühmten Bienenforscher aus den Zwanziger- bis Fünfzigerjahren geschenkt. Im Laufe meines Studiums neigte ich mich dem Thema Bienen zu. Bei den Bienen ist der Standort Stadt übrigens anders, da die Pflanzen gute Filtereigenschaften besitzen und beispielsweise die Schwermetalle nicht bis in den Nektar gelangen, schon gar nicht bei den Bäumen. Daher kann man in der Stadt biologisch imkern, wenn man seine Bienen so aufstellt, dass die Abgasschwaden der Autos nicht ins Flugloch dringen. Dafür habe ich immer gesorgt, wenngleich anfangs unbewusst. Mit Neonicotinoiden und Glyphosat, die auf die Pflanzen zugeschnitten sind, muss man sich nicht herum schlagen. Der vorhin erwähnte Franz Wagner war Rumäniendeutscher und hatte zuhause 400 Völker im Nebenberuf gehalten. Franz war Gießermeister in einer Eisengießerei in Temeswar gewesen. Er half Emmy Di SanCarlo in der Cafeteria oder stand bei Festen im Ausschank. Dort traf man dann regelmäßig mich ebenfalls an, da ich ihm Löcher in den Bauch fragte. Er hatte einen kleinen Bienenstand im Schweizerholz, außerhalb der nördlichen Autobahnumfahrung, links von der Fortsetzung der Leopoldstraße, nicht weit von der Schleißheimer Flugwerft. Emmy war damals die Pächterin der Cafeteria und wohnte in Hochmutting. Sie half gelegentlich am Bienenstand, wenn es ums Schleudern ging. Ansonsten blieb sie fern. Die beiden besaßen die Bienen gemeinsam oder zumindest teilweise gemeinsam. Was Franz und sie verband, blieb mir verborgen. Das Bienenhaus lag mitten im Wald und war von einem hohen Zaun umgeben. Dort standen 25 bis 30 Völker. Franz wurstelte ständig herum und strich jedes einzelne Stück Fläche mit hellbrauner Abtönfarbe. Mir war er ein geduldiger, aber unnachgiebiger Lehrer. Er war für jemanden wie mich, der dauernd alles hinterfragt, das Beste, was mir passieren konnte. Er veranlasste, dass mir von den Hausmeistern das kleine, aufklappbare Bienenhäuschen, das im Akademiegarten im Gebüsch hinter dem Teich gestanden hatte, in den Barackengarten getragen wurde. Eines Abends im Jahr 1992 fuhren Franz und ich zu seinen Bienen hinaus und er verkaufte mir drei Völker, die wir in die Stadt herein schafften. Das war dann der Anfang einer ganz neuen Zeit. Denn die Bienen treten in ein Leben wie ein großes Haustier, wie ein Pferd vielleicht. Es gibt ein wunderbares Foto, das ein Freund gemacht hat, der damals mit Architekturfotografie sein Geld verdiente. Man sieht meine Bienenkästen, das Häuschen, die Baracke und das Akademiegebäude, lauter unterschiedliche Formen. Dazu erkennt man das vorhin erwähnte Herkuleskraut. Anfangs erntete ich natürlich wenig Honig. Ich gewöhnte mir zudem an, jeden überschüssigen Honig in Eimern unters Bett zu schieben. Später eröffnete ich im Keller ein zweites Lager. Ich wusste einfach nicht, wohin damit. Nach Jahren begann der Verkauf in größerem Umfang. Im Grunde hielt ich die Bienen um der Bienen willen. Sie lagen mir am Herzen. Den Honig sah ich als die Nebensache, der man eben nicht entgeht. Den Nutzen des Honigs verstand ich erst spät, nicht den gesundheitlichen, sondern denjenigen, ein Botschafter zu sein. Menschen, die den Honig meiner Bienen essen, entwerfen sich ein Bild, sie besuchen den Bienenstand, sie interessieren sich, schneiden Zeitungsartikel aus, in denen es ums Bienensterben geht, sie verfolgen aufmerksam jede Nachricht. Ich bekomme häufig Mitteilungen, wann das nächste Imkertreffen ist, wann ein Film im Fernsehen gezeigt wird und ich werde über neue Erfindungen informiert. Katharina bat mich, ein paar Worte über den Stadthonig als Nahrungsmittel zu sprechen. Allerdings bin ich dazu nicht der Richtige. Man weiß, dass Bienenprodukte auf der Grenze zu Stoffen mit Heilwirkung liegen. Insbesondere Propolistinktur, die ich für den privaten Gebrauch anfertige, half mir letzten Sommer, eine tiefe Wunde im großen Zeh meiner Tochter zu behandeln. Manche lutschen Propoliskügelchen beim ersten Anflug einer Erkältung, denn es ist ja dessen antibiotische Wirkung bekannt. Die Verwundeten (ich vermute) des Zweiten Weltkriegs bekamen Umschläge mit Zucker oder Honig.
Inzwischen, ganz neu und ziemlich teuer, gibt es ein Honigkochbuch. Das geht in Richtung Kochkultur und Esskultur, und ich war versucht, es zu kaufen und hier Rezepte vorzulesen. Ich kann nur sagen, es fällt mir schwer, den Honig als reines Nahrungs- und Genussmittel aufzufassen, etwas, das morgens auf dem Frühstückstisch steht. Für mich ist Honig nach wie vor ein Kundschafter. Er berichtet den Käufern von den Bienen und den Pflanzen, allgemein von den Naturzusammenhängen und von den klimatischen Veränderungen. Zu den Anpflanzungen rund um die Städte habe ich eine unklare Meinung, die mal in die eine, dann in die andere Richtung ausschlägt. Mir entgeht natürlich nicht, wie viele Imker und streitbare Leute, die an der Erhaltung der Naturzusammenhänge interessiert sind, der Bund Naturschutz und Naturkundler und so weiter sich gegen Neonicotinoide und Glyphosat wenden. Diese Stoffe werden von den großen Düngemittelkonzernen nach wie vor hergestellt. Manchmal geschehen Unfälle wie im Jahr 2008 in der Oberrheinebene. Ich berichte das jetzt nicht im Einzelnen, aber es starben dabei aufgrund eines Fehlers, den ein großer Konzern begangen hatte, etliche 10.000 Bienenvölker. Das ganze Gefecht ähnelt einem Kampf von Titanen. Sehr vereinfacht will ich es so beschreiben: Die einen sind viele, die anderen haben das Geld. Manchmal erringt die eine Partei einen Sieg, manchmal die andere. Ich bin nicht auf dem Laufenden, wo der Streit gerade steht. Ich bin auch kein Prophet, sondern Künstler. Ich bin nicht einmal jemand, der über das künstlerische Projekt hinaus einen großen Entwurf in den Raum stellen kann. Mir fiel jedoch auf, dass auf dem Land bestimmte Gebiete mit außergewöhnlichen Pflanzen, die wertvollen Nektar liefern, bestanden sind. Es gibt die Lüneburger Heide samt einer eigenen Bienenrasse und Heidehonig, den Pfälzer Wald mit Esskastanienhonig, den Weg nach Murnau hinaus mit überdüngten Wiesen, die einmal im Jahr knallgelb voller Löwenzahn blühen. Ich kenne das Gebiet westlich von Frankfurt, die Hänge hinab ins Rheintal, jene Anbaufläche, worauf Eckes Edelkirsch seine Pranke gelegt hat. Dort wachsen haufenweise Kirschbäume, dazu Zierobst. In Kalabrien und Sizilien fand ich Orangen- und Zitronenplantagen, dazu einen großblütigen, sehr roten Klee, der auf Sizilien sulla heißt und wahrscheinlich Inkarnatklee ist. Er wird als Futter verwendet. Im Mittelmeerraum, vor allem aber auf Sardinien und Elba gibt es größere Bestände des Corbezzolo-Strauches, der im Winter blüht und hier missverständlich Erdbeerbaum heißt. In Ungarn stehen ausgedehnte Robinienwälder, die Akazienhonig liefern. Es gibt Sonnenblumen in Frankreich und schließlich noch unseren Wald oder diverseste Linden hier in der Stadt. Das ist gewiss eine unvollständige Aufzählung besonderer Trachten. Damit will ich jedoch sagen: Man muss seine Bienen nicht Raps befliegen lassen. Der Raps ist etwa zu 70 % ein Windbefruchter. Diese Pflanzungen kommen also ohne die Biene zurecht. Der Mais liefert keinen Nektar und nur wenig Pollen. Also kann man seine Bienen auch von dort abziehen. Man sollte weiter gegen Neonicotinoide und Glyphosat ankämpfen, aber man muss den Dreck nicht auch noch essen. Rapshonig ist ohnehin so billig, dass sich all die Arbeit, vom Schleudern über das Filtern über das Rühren, die Gläser und das Abfül - len, kaum lohnt. Viele Imker klagen bei uns über einen Mangel an Bienen, zahlreiche Jungimker gehen erst einmal leer aus. Jene hypothetischen Imker, die sich dem Raps und dem Mais entziehen, könnten vermehrt Ableger bilden und diese verkaufen. Sie könnten während der Zeiten, die auf dem Land ausgespart würden, in die Stadt ziehen. Im nördlichen Englischen Garten ließen sich riesige Quartiere ausweisen, die sie vorübergehend anwandern könnten. Dieser Vorschlag ist nur eine Möglichkeit und sicher lückenhaft. Was wir aber sicher brauchen, was in der Stadt halbwegs gegeben ist, auf dem Land kaum, ist Vernetzung. Es gibt mehrere Großgruppen von Imkern und sie tauschen sich wohl nach innen hin aus, aber die Gruppen als Ganze schotten sich ab. Sie haben jedoch ein giganti - sches gemeinsames Problem, das ist die Varroamilbe. Zwischen den Eigenbrötlern, denen auf dem Land und denen in der Stadt und untereinander müssen mehr Informationen ausgetauscht werden. Wofür ich ebenfalls sorgte, das jedoch bewusst, war, dass die Bienen in einem öffentlichen, städtischen Garten zu stehen kamen und dass man sie aufsuchen kann. Viele Besucher des Rosengartens am Schyrenbad, gehen bei den Bienen vorbei, schauen ein wenig herum und informieren sich dadurch über die Geschehnisse im Jahresablauf. Übrigens schubste jemand im Jahr 2016 zwei meiner Bienenstöcke in den Schyrenbach, der vor ihnen vorbei fließt. Das war bereits einmal geschehen, vor zahlreichen Jahren. Diesmal sprach ich mit einem der Stadtgärtner und er sagte: Ruf die Zeitung an. Also telefonierte ich sie alle durch. Und die von der TZ schickten binnen einer halben Stunde ihren Fotografen. Wie es bereits gesagt wurde: Das Halten von Bienen ist heute ein Politikum.

sculpture sonore


Die Wertschätzung, die John Cage für Marcel Duchamp empfand, erstreckte sich über ein halbes Jahrhundert und bezog sich nicht nur auf dessen Kunstausübung, sondern auf die Präsenz, mit der er im Leben stand. Cage und Duchamp waren zeitlich mindestens eine Generation voneinander entfernt. Cage hatte übergroßen Respekt vor dem Älteren und näherte sich vorsichtig an. Er benahm sich wie ein schüchternes Kind, dem die Tante erklärt, dass es stört. Cage stellte eines Tages Teeny Duchamp die Frage, ob es wohl sehr aufdringlich sei, ihren Mann zu bitten, ihm das Schachspielen beizubringen. Teeny antwortete lapidar: „Frag ihn.“ Cage fand sich von da an wöchentlich ein und spielte gegen den Meister. Man muss dazu vielleicht wissen, dass Duchamp auf professionellem Niveau spielte. Cage berichtet im Jahr 1992 in seinem letzten Interview, dass er kein einziges mal gewonnen habe, allerdings nicht, weil es keine Möglichkeit gegeben hätte, sondern weil seine Absicht nicht im Gewinnen lag. Er suchte einfach Duchamps Gesellschaft. Er berichtet außerdem, dass Duchamp darüber erzürnt war. Ich vermute, dass Duchamp ein paar mal absichtlich eine Öffnung ließ, Cage aber widerstand und nicht in die Lücke vorpreschte. Offenbar unterhielten die beiden sich außerhalb der ausgiebigen Schweigeperioden, die beim Schachspiel üblich sind, über Kunst. Duchamp ging kaum einmal zu einer Ausstellung, wusste aber umfassend Bescheid. Auch mithilfe des Zufalls hatte er bereits komponiert, was Cage den Boden unter den Füßen wegzog, denn das war bereits 1912 gewesen, im Jahr, als Cage geboren worden war. Weiter setzte Duchamp den Zufall als generierendes Prinzip ein, arbeitete jedoch nicht mit Münzen oder Stöckchen, also dem I Ging, sondern erfand auf subtile Weise eigene Möglichkeiten. Cage indessen besetzte diese I-Ging-Nische völlig. In Interviews mit Duchamp steht zu lesen, dass er die Wertschätzung für Cage teilte, er erwähnt besonders dessen Humor und die Leichtigkeit, mit der Cage dem Leben begegnete.
Das besagte Interview mit Cage wurde von Joan Retallack, einer amerikanischen Dichterin, von 15. bis 17. July 1992 geführt und ist in der Wesleyan University Press erschienen. Zu dem Gespräch kommen drei weitere zwischen September 1990 bis 30. Juli 1992. Cage starb am 12. August 1992. Zu dieser Zeit stand eine umfassende Werkschau zu seinem 80. Geburtstag kurz bevor.


In einem Interview aus dem Jahr 1959 mit dem wöchentlich erscheinenden Nachrichtenmagazin Newsweek, New York, (gesammelt und übersetzt von Serge Stauffer) sagt Duchamp:
"Ich glaube, man könnte sagen, ich verbringe meine Zeit mit Atmen", schloss Duchamp ab mit einer Fröhlichkeit, die seine Lust am Lebensakt bekräftigte. "Ich bin ein respirateur - ein Atmer. Ich genieße das ungeheuerlich."


Blüten





Eine Vorform dieser Arbeit entstand im Jahr 2000. Damals ordnete ich jeweils vier Blätter , teils farbig, teils gemustert oder sogar mit gedruckter Schrift, zu mittelgroßen Rechtecken. Anfangs dachte ich, sie müssten von einer zusätzlichen Spange zusammen gehalten werden. Daher experimentierte ich und legte in zwei oder drei von ihnen eine Blüte ein, und zwar so, dass sie die Mitte bildete und dort saß, wo die Blätter sich schnitten und wo sie in alle vier hinein ragte. Dann unterließ ich die Sache mit den Blüten. Sie war eine Verdoppelung. Denn ich fasste die Blätter an sich als vielfarbige Blüten auf. Sie mussten nicht weiter zusammen gehalten werden. Das besorgte der äußere Rand.

Anders war es diesmal mit den mehrfarbigen Blättern. Ihre Farbigkeit war nicht nur ausgeprägter und exzentrischer, ich ließ die einzelnen, teils quietschbunten, ziemlich großen Papierbögen nach außen ragen. Also setzte ich innen eine gestempelte Zeile, die sie nicht nur zusammen hielt, sondern die in eine andere Dimension wies. Die Zeile stammt aus Finnegans Wake und enthält jeweils einen Blumennamen, Veilchen, Lotus, Amaryllis und so weiter. Die Farbigkeit wurde von der Menge an bunten Blättern bestimmt, die in einer Schublade meines Planschrankes gesammelt waren. Dazu kam eine völlig subjektive Auswahl, die ich traf, und dazu wiederum eine völlig objektive, die aus der gestempelten Zeile besteht, die ich wiederum subjektiv gewählt hatte. Das klingt kompliziert und womöglich verquast, ist aber einfach: Die Subjektivität in den Zusammenstellungen, das Begrenzte in der Auswahl und die Objektivität im Stempeln sind jeweils bis an den Endpunkt gedehnt. Mehr war mir nicht möglich. Zwischen diesen drei finalen Punkten spannt sich schließlich jedes Blatt auf.





Die Entstehung der Blätter zog sich über mehr als ein Jahr hin, ich begann damit in der Mitte des Jahres 2016 und blieb bis weit ins Jahr 2017 daran kleben. Daher ist eine genaue Datumsangabe nicht sinnvoll. Die Sache schlummerte jeweils ein paar Monate, dann fiel mir die nächste Variante ein. Selbst als sich die folgende Arbeit ausrollte, sculpture sonore, auch sie hatte jahrelang vor sich hin gegoren, fuhr ich mit den Blättern fort. Ich wollte sie unbedingt hinter Glas und gerahmt präsentieren.

Mit den Blütenbildern verknüpfte ich mein anfängliches Interesse für Pflanzen, das schon vor dem für Bienen bestanden hatte, mit einer mehrdimensionalen Arbeit.
Einige, wenngleich wenige Textstellen in Finnegans Wake sprechen Blumennamen aus, die uns gebräuchlich sind. Ich stellte fest, dass Joyce häufig üppige Blüten aus angelegten Gärten transportiert, als sei er in der sogenannten freien Natur selten unterwegs gewesen, anders als ich, der selbst kleinsten Blüten hinterher gekrochen war. Bei Joyce findet sich die Blüte wohl in Verbindung mit Weiblichkeit. Kann ich das belegen? Nein. Aber mir kommt es so vor. Das ist eine Menge, wenn man bedenkt, wie tief ich mich in den Text verstrickt habe und wie oft ich mich daraus bediene.





Von Anfang an fasste ich die Bienen nicht nur als Sammlerinnen, sondern als geflügelte Kundschafter und als Botschafter zwischen den einzelnen Blüten auf. Daher wollte ich bei der Vieldimensionalität, die sich den menschlichen Sinnen eröffnet, herauskommen. Mein Weg führte von den Blüten zu den Bienen und zurück. Dem Wissenschaftler gilt als entscheidend und maßgeblich, welche Farben die Bienen sehen, wenn sie zu den Blüten fliegen, welche Gerüche sie in feinster Weise unterscheiden können, wie sie abgegraste Blüten markieren und so weiter. Vielleicht zurecht wird die Wahrnehmungsfähigkeit der Bienen über die des Menschen gestellt. Bienen stehen beispielsweise in enger, notwendiger Verbindung zu den Blüten. Sie orientieren sich im Raum und im dunklen Bienenstock. Der Mensch verfügt über zahlreiche Sinne. Doch einige davon nutzt er nicht oder hat keinen Zugriff. Sie werden überlagert oder die Wahrnehmungsfähigkeit ist schwach ausgeprägt. Beispielsweise können viele Menschen weder den abends bevorstehenden Regen riechen, noch den baldigen Schnee. Andere schmecken zahlreiche Nuancen im Wein. Oder sie schmecken kleine Trachten aus dem Honig heraus.

Kein Schwarmjahr


Es gibt Jahre, in deren Frühling und Sommer die Bienen nicht die geringste Neigung zeigen, zu schwärmen, das heißt sich zu teilen (und dann als Schwarmtraube im Baum zu hängen). Umgekehrt gibt es Jahre, während derer sie nichts anderes im Sinn zu haben scheinen. Von starken Völkern bildete ich häufig Ableger, allein schon, um junge Königinnen zu bekommen. Während des Jahres 2017 war es ruhig am Stand. Die Bienen werkelten still und geschäftig vor sich hin. Sie bastelten gelegentlich lose ein paar Weiselnäpfchen. Manche Imker habe ich sie als Spielnäpfchen bezeichnen hören. In diese runden, leicht bauchigen Wachswiegen müsste die alte Königin ein befruchtetes Ei legen, damit eine junge Königin anfinge, darin zu entstehen. Als ich feststellte, wie ruhig die Völker saßen, hielt ich keine Nachschau mehr. Es genügte, die Drohnenwaben auszuschneiden. Und erst im Herbst, nachdem ich die Damen zwei Monate in Ruhe gelassen hatte, stellte ich fest, dass die Königinnen weiter Eier legten.
Ich hatte bemerkt, dass Bienen ihre eigene Ordnung im Stock finden. Ihre Vorgehensweise unterscheidet sich nicht wesentlich von der, die berühmte Bienenforscher entdeckt haben. Nur zeigt der Honigkranz die natürliche und optimale Form des Volkes. Im Zandermaß-Betrieb ist es nahe liegend, mit einem Brutraum zu imkern, der aus zwei Zargen besteht. Diese beiden bilden nahezu einen Kubus. Wie gesagt. Dadurch ist genügend Platz für das in etwa kugelförmige Volk garantiert und wenn der Winter kommt, wird in die Ecken Futterhonig gestopft. Im Herbst sitzt das Volk übrigens weiter unten. Man kann das Ohr an den Kasten legen und mit dem Fingerknöchel eine Klopfprope machen. Im Frühjahr haben sich die Bienen allmählich nach oben gefressen.

(Zeichnung Absperrgitter)

Stempeln


Das Stempeln ist ein Druckvorgang, wenn man des Ergebnis betrachtet. Jedoch in der Ausführung ist es ein plastischer Vorgang. Die Hand nimmt ein beschichtetes Stück Holz auf, taucht es in ein Farbkissen und drückt es ab, und dieser Vorgang wiederholt sich hunderte Male über zwei Jahrzehnte und auf die verschiedensten Untergründe bis hin zur weißen Wand. Alle neuen und viele der alten Texte, die ich benutzte, sind Buchstabe für Buchstabe gestempelt. Eine Ausnahme ist der runde APICULTURA Schriftzug in verschiedenen Größen.
Die allerfrühesten Arbeiten, noch bevor ich Bienen hielt, bestanden gelegentlich aus einem Wort, das so oft abgedruckt werden sollte, dass sich eine winzige Plastikschiene, auf die es geheftet war, dafür lohnte. Anfangs benutzte ich zusätzlich Bilder, vorgefundene Motive, die ich in Stempel umfunktionieren konnte, beispielsweise jene berühmte Dame mit dem schwingenden Rock, die die Gauloise-Zigarette auszeichnet, (ich schnitt sie aus und klebte sie auf einen Holzklotz) oder robuste Blätter, beispielsweise die des Ginkgo-Baumes.

Bild Gummitypen


Die ersten Texte waren entlang einer Bleistiftlinie oder eines Lineals gestempelt. Dann entdeckte ich auf einem Flohmarkt, bequem in Holzkästen hängend, ganze Stempelsätze mit jeweils einer bestimmten Schrifttype in einer besonderen Größe. Man hatte sie im vordigitalen Zeitalter dazu verwendet, um in Schaufenstern die Waren auszuzeichnen. Auf ein Holzklötzchen geklebte Gummi-Buchstaben sitzen in derselben Entfernung vom unteren Rand. Auf der Oberseite des Holzes ist der jeweilige Buchstabe in seiner genauen Größe abgedruckt. Die Schrift sitzt also auf einer Grundlinie, was in Worten etwas schwierig zu beschreiben ist, sich jedoch im Anblick sofort erschließt. Man schreibt damit sozusagen wie ein Erstklässler. Die Neuerung war, dass die Buchstaben nicht frei aufs Papier gedruckt werden, sondern entlang einer L-förmigen Schiene, auf der ein Schlitten läuft. Dadurch bildet sich eine Ecke, die man Buchstabe für Buchstabe weiter nach rechts rutscht und in die hinein man den Holzblock drückt. Seitlich liegen Lineale, damit man die Buchstabenreihen gleichmäßig nach unten verschieben kann. Jedoch ist der Abstand zwischen den Buchstaben frei. In manchen Worten zappeln sie nur so herum. Dass sie dennoch auf einer gerade Linie sitzen, wirkt zunächst verwirrend. Wenn ich einen Text stemple, lerne ich oft erst gegen Ende, die Abstände gleichmäßig zu setzen, das e beispielsweise etwas näher unter das w zu rutschen und so weiter.
Eines Tages fuhr ich mit einem Freund zu der Firma in Neu-Ulm, die die Buchstabensätze hergestellt hatte. Dort lagerten noch einige davon und ich nahm alle außer Sonderschriften. Die ärgerliche VW-Type beispielsweise ließ ich ihnen dort. Insgesamt besitze ich jetzt sieben verschiedene, von drei Millimetern Höhe bis zu drei Zentimetern Höhe, von schmal zu fett, von Futura über Helvetica bis hin zu einer, die aussieht wie eine Times. Später ließ ich mir ein längeres Aluprofil schneiden, damit ich lange Texte nicht nur auf größeres Papier, sondern auch auf die Wand stempeln kann.

Gewisse Blätter scheinen ohne Sinn, dienten jedoch dazu, die Gummitypen von einer dunklen Farbe zu säubern, um auf eine helle wechseln zu können.










Während der letzten zehn Jahre ist in geringem Maß Schreibmaschinenschrift hinzu gekommen. Ursprünglich benutzte ich sie nur, um die Honigetiketten zu beschriften. Heute fertige ich auch bestimmte Texte damit. Der Buchstabenabstand ist nicht im Geringsten variabel, so dass jedes Wort starr und unharmonisch aussieht. Das hat seinen Reiz, aber ich setze diese Art nur selten ein. Im Übrigen ist die Breite jedes Papiers, das man mit der Schreibmaschine einzieht, begrenzt. Bei uns entspricht das in etwa dem DIN A 4 Format. Zieht man vom Ergebnis her den gleichen Rückschluss auf die Fertigung, landet man ebenfalls bei der Hand. Sie drückt Taste für Taste nieder und lässt den blechernen Buchstaben zum Papier sausen.

Jack Kerouac tippte die erste Fassung seines berühmten Buches On The Road auf einzelne Bögen von länglichem Zeichenpapier, die er aber aneinander klebte, so dass eine schier endlos lange Rolle entstand. Literaturwissenschaftler vergleichen sie heute natürlich mit der Straße, auf der er sich bewegt hatte. Er lieferte die Rolle beim Verlag ab. Dann machte er sich sofort an eine Überarbeitung und danach sofort ein weiteres mal, ich weiß nicht, wie oft. Auf der rororo Ausgabe, die man hier zu kaufen bekommt, steht eigens vermerkt, es sei die Urfassung, aber wie zur Strafe häufen sich darin 130 Seiten lang die Nachworte.

Papierarbeiten 7


Die Arbeiten auf Papier begleiteten mich unablässig, manchmal schienen sie den größeren Teil auszumachen, denn vieles ist überhaupt nur auf Papier sichtbar. Als ich mit einem Freund alle großen Blätter fotografierte, die sich seit dem Jahr 1992 zum Bienenthema angesammelt hatten, und mithilfe des Scanners die kleineren erfasste, bekam ich erst einen Eindruck von deren purer Vielzahl.
Der Freund und ich beispielsweise waren einen ganzen Tag zugange. Am Schluss überreichte er mir einen USB-Stick, auf dem sich 293 Dateien befanden. Schließlich waren es tausendeinhundert Arbeien. Damit konnte man kaum einen Katalog bestücken, so großartig aufgemacht er auch sein mochte. Die Auslese musste die unbarmherzigste sein. Einige Kapitel, das kam hinzu, waren sogar so geschrieben, dass sie gar keine Bilder erforderten. Sie waren kurz und nur Zitate aus den Honiggeschichten. Mich erstaunte, wie sehr sich meine Arbeitsweise im Laufe der Jahre verändert hatte.

Winterarbeit Honigeditionen


Im Mai 2017 eröffnete in der Galerie Werkschau eine Ausstellung, in der alle Künstler vertreten waren, die bisher dort ausgestellt hatten. Es gab das zehnjährige Bestehen der Galerie zu feiern. Es sollte ein Galeriefest und ein Hoffest werden. Aber da es regnete, kamen wenige Besucher. Dagegen war in der Küche ein üppiges Büffet aufgebaut. Doch während Inge, die Galeristin, noch ihre Einführungsrede hielt, wanderten viele in die Küche und fraßen das Büffet kahl. Als ich später dorthin kam, ragten zwei Stangen Baguette aus einem Topf, auf einem großen Teller lagen drei Oliven und ein wenig Joghurt mit Knoblauch dümpelte in einer enormen Schale.






Mit Honigetiketten herumzuspielen ist eine der typischen Winterarbeiten. Man hat den Honig verarbeitet und in die Gläser gebracht und es geht um das Ausliefern. In diesem Fall drehte es sich um ein Sonderkontingent von zwei Schachteln kleiner Gläser, 250 Gramm, die ich eigens abgefüllt hatte. Mir lag im Sinn, für die Ausstellung eine Edition mit den entsprechenden Etiketten zu entwerfen. Einen verhaltenen Schritt, in dem ein wunderschönes Gedicht von Heine zum Einsatz kam, hatte ich bereits im Jahr 2015 getan.





Der Anfang bestand darin, dass meine üblichen Etiketten, die ich bereits einmal hatte nachdrucken lassen, wieder zu Ende gingen. Für das Jahr 2017 mochten sie noch genügen, aber danach mussten neue parat stehen. Es gab mittlerweile einige Beschwerden hinsichtlich des Motivs. Zwar teile ich die Einwände nicht und sie sind mir sogar unverständlich, doch war das himmelblaue Etikett, wie gesagt, von einem Grafiker entworfen worden. Ich hatte damals dessen Mut bewundert, dieses Blau mit so kaltblütiger Präzision zusammen mit einer Westernschrift einzusetzen. (Einer Frau, die vor zwei Jahrzehnten mit ihren Kinder beim Honigschleudern zugesehen hatte, war der anthroposophische Schrei entfahren: "Seht nur Kinder, seht nur, flüssiges Gold!") Das Motiv, in das der Grafiker die restlichen Informationen integrierte, hatte ich Jahre vor dem Etikett bereits auf  Einladungskarten und in Zeichnungen verwendet. Daher wollte ich im Jahr 2017 sehen, ob mir selbst etwas Überzeugendes gelingen würde. Da versagte ich völlig. „Du kannst ja nur Kunst“, sagte ein Freund ab und zu. (Das beschreibt die Spezialisierung des Künstlers aufs Ozeanische.) Sobald ich allerdings anfing, auszuprobieren, was außerdem möglich war, öffneten sich so viele Möglichkeiten, dass ich um Begrenzung bemüht sein musste, damit überhaupt Editionen zustande kamen. Ich ging mit mir zu Rat und dachte schließlich, drei Themen konnten es sein.




Das eine Drittel der Editionen bestand aus graubraunen Streifen mit Blumenbriefmarken und den jeweiligen Stempeln, fremden gemischt mit eigenen. Die Post hatte die Blüten zahlreiche Jahre lang ausgegeben. (Darauf wird in dem Kapitel "Postalisches Feld" eingegangen.) Sie folgten auf Bienen, die mitten im gelben Blütenstaub einer rosafarbnen Blüte mit fingrigen Blütenblättern saßen. Das ist einige Jahre her, denn meines Wissens kostete der Brief damals 55 Cent, und die Bienen waren für die emsigen Flüge kreuz und quer durch Deutschland ausgelegt.





Zuvor, in den Jahren 2003 und 2004 hatte es schon einmal übergroße, schwülstige Marken mit Rosen- und Kamelienblüten gegeben, ebenfalls zu 55 Cent. Es stand dort in geschwungener Pseudohandschrift "für dich" und "Grüße", als ob man einer entfernten, aber innig geliebten Tante im Ruhrpott schreiben würde. Die Marken erinnerten mich sofort, wie Großmütter und Tanten in ihre mit Kölnisch-Wasser getränkten Taschentücher spuckten, um mir den schokoladigen Mund sauber zu wischen. Nur die stahlharten Poststempel, die auf die Briefe gedroschen wurden, milderten diese widerwärtigen Assoziationen ab.
Erst später ließ sich die Post dazu hinreißen, die nüchternen, aber umso romantischeren Blüten in kompletter Vielfalt, jeweils mit einem eigenen Wert versehen, aufzulegen. Eines Tages, als ich schier endlos auf einen Zug warten musste und sich ein Postamt neben dem Bahnsteig befand, stapfte ich hinein und sagte, ich wolle von jeder Blütensorte mindestens eine Marke kaufen. Später stellte ich fest, dass der Beamte einige Werte unterschlagen hatte oder sie dort nicht vorrätig gewesen waren oder sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht gedruckt worden waren. Ich denke mir, dass es mehr Spaß macht, einen Brief voller Blüten in den Postkasten zu stopfen, als beispielsweise frankiert mit der trockenen „600 Jahre Universität Leipzig“ Marke.
In der Zeit der Blütenschwemme bat ich einige Freunde, diese Briefmarken für mich zu sammeln. (Der Vorgang entsprach dem Sammeln der Bäckereibiene.) Später bastelte ich daraus Etiketten. Natürlich hatte ich auch persönliche Favoriten, beispielsweise die Kuhschelle zu 58 Cent oder das Tausengüldenkraut zu 28 Cent. Die Schokoladen-Kosmee zu 70 Cent kam mir verwegen vor. Dass die Blüten der selteneren Pflanzen umso höheren pekuniären Werten zugeordnet sind, erschien mir logisch. So kam der Frauenschuh, eine seltene heimische Orchideenart, mit Viereurozehn enorm heraus. Allerdings ist die weiß blühende „Federnelke“, mit einem rotblauen Saftmal, im Naturspektakel selten zu finden, und doch bleibt sie mit 85 Cent auf den unteren Rängen.







Eine labyrinthische Spur, die sich in Zusammenhang mit meiner gesamten künstlerischen Arbeit aufdrängte, sind knappe, verrätselte Sätze über Bienen und Wachs und Honig, die bumble bee und sprachliche Verdrehungen. Natürlich ist wieder von Finnegans Wake die Rede. Es ist die unerschöpfliche Quelle. Von dort zu zitieren ist immer ergiebig. Joyce ist ein Meister der Verknappung und der Wake erscheint mir als das Buch der Moderne. Man kann sich damit nicht an den Strand legen und schmökern und die Zeit vergessen. Doch einige würden es heute auf die immaginierte einsame Insel mitnehmen.






Eine dritte Quelle und somit die dritte Edition bildete ein Thema, das mich vor allem im vergangenen Jahr beschäftigte. Es sind Filmchen auf youtube, die ich oft gemeinsam mit meiner Tochter anschaute. Jedem, der weiß, worum es geht, ist sofort verständlich, dass ich hier nicht mehr preisgeben kann.

Übrigens rief mich später, als die Ausstellung bereits am Laufen war, eine Frau an und erbat sich, ein goldenes Etikett mit einem Text aus finnegans wake angefertigt zu bekommen. Und im Glas sollte frischer Honig aus dem Jahr 2017 sein. Der war zu Beginn der Ausstellung noch nicht geerntet worden. Sie wolle eine Verwandte damit beschenken, sagte sie. Doch als ich für ein vorgefundenes Glas das Etikett anfertigte und frisch geschleuderten, beinahe noch bienenwarmen Honig einfüllte, wies sie es zurück. Das sei nicht das Glas, das sie erwartet habe. Es war etwas höher und schlanker und obenauf saß ein Blechdeckel mit Sechseckmuster. Man konnte gerade bei diesem Glas besonders gut den hellen, fast klarsichtigen Honig betrachten. Sie wollte lieber eins der gedrungenen mit Plastikdeckel.