In zwei Sommern der Achtziger Jahre erkundete ich zufuß die
Gegend um Lengenwies, das zwischen Eurasburg und Beuerberg liegt.
Damals arbeitete ich am ersten und einige Jahre später am zweiten
Umbau eines riesigen Anwesens dort, und wir hatten uns vorwiegend den
Dachstuhl vorgenommen. Beim zweiten Umbau saßen wir abends erschöpft
in großer Höhe, unterhielten uns einsilbig, ließen die Beine
heraus baumeln und tranken Bier aus der Flasche. Dazu betrachteten
wir unspektakuläre Sonnenuntergänge.
Mein eigentliches Interesse allerdings galt den blühenden
Pflanzen. Beispielsweise stieg ich frühmorgens vor Arbeitsbeginn auf
Storchenbeinen über taunasse Wiesen und betrachtete Blütenformen.
An den arbeitsfreien Tagen und den Wochenenden schritt ich die
Umgegend ab und erstellte in meinem Kopf so etwas wie eine
topographische Karte mit Höhenlinien. Etwa fünfzig Meter über dem
Fluss stieß ich auf ein völlig zugewuchertes, ehemals
aufgeschottertes, ebenes und schmales Band, das sich zwischen dichten
Gebüschen hindurch schlängelte. Der Boden war halbtrocken,
vielleicht ein wenig kalkhaltig. Natürlich erfährt, wer Pflanzen
anschaut, auch etwas über den Boden. Daher war ich nicht nur
Pflanzenfreund, sondern hielt mich auch für den obersten Spezialisten für Bodenkunde.
Erst maß ich die Gegend mit professionellem Blick. Dann zerrieb ich
Erde zwischen den Zeigefingern, roch daran und schob die Zungenspitze
vor. Ich war ein Kasper.
Es gibt ein einfaches Pflanzenbestimmungsbuch, das heißt: „Was
blüht denn da?“ Das benutze ich seit dreißig Jahren. Es ist nach
Blütenfarben geordnet, was gar nicht dumm erscheint. Damals trug ich
es ständig mit mir herum. Wie zu Spitzwegs Zeiten die
Botanisierbüchse, war es mein Ausweis. Es sagte: Obwohl ich bereits
unheimlich schlau bin, will ich dennoch mehr wissen.
Direkt auf die Wand gestempelt
Das in ebener Fläche aufgeschüttete Band, das erkannte ich vage, war ein stillgelegtes Gleisbett. Dem fehlten längst die Schienen. Dafür standen dornige Schlehenhecken im Weg. An denen zerriss ich mir die Kleidung und am Ginster fing ich mir Zecken ein. Sobald freie Flächen kamen, bildeten sich abgeschiedene, sonnige Oasen. Dort standen Pflanzen, die ich zuvor nicht gesehen hatte. Nur gehört hatte ich von ihnen und an Münchhausengeschichten geglaubt. Ihre Blüten waren kompliziert gebaut und sahen ein wenig wie Insekten aus. Sie waren nicht eindeutig farbig, beziehungsweise mehrfarbig. Mein kluges Buch ordnete sie unter rot ein, was ich nicht bestätigen konnte, wobei mir allerdings auch keine andere Farbe einfiel. Außerdem bin ich nicht so gut in Farben. Das Buch wies sie als Ragwurzen aus. Das sind überaus seltene, heimische Orchideen. Wenn ich mich hinkniete, hingen sie mir bedrohlich ins Gesicht, als könnten sie gleich zuschnappen. Von Orchideen hatte ich natürlich gehört, aber sie den tropischen Gewächshäusern des Botanischen Gartens zugeordnet.
Als ich betreffs des verwunschenen Gleisbetts herumfragte, wussten vorwiegend die alten Leute Bescheid. Es sei sowieso ehemalig, hörte ich, und habe in die Landeshauptstadt hineingeführt, zumindest bis an deren südliche Grenze. Und es gehöre zur Isarthalbahn, aber das sei, wie gesagt, lang her. Als Schlaumeier wollte ich wissen, wie man von einer Isarthalbahn sprechen könne, wenn unten sich die Loisach dahin winde. Die alten Leute starrten mich entgeistert an. Erst hatten sie mich umstanden, jetzt lösten sie sich und diskutierten untereinander weiter. Sie sprachen auf eine Weise davon, als sei die Sache in deren Kindheit bereits zu Ende gegangen und dann nicht mehr aufgenommen worden. Manche behaupteten, die Hauptstrecke habe sowieso in Wolfratshausen geendet, sei aber bis dorthin lang betrieben worden und mit Elektrik. Andere widersprachen und benannten Beuerberg als Endstation, wieder andere wollten weit darüber hinaus gefahren sein, bis an die ersten Ausläufer des Gebirges.
Stempelarbeit zur Ausstellung: www.kunst-im-bau.org, in den Betriebsstätten der ehemaligen Isarthalbahn, Maria-Eich-Straße Ecke Beuerberger Straße.