Gabriella Brembati ist meine Galeristin in Mailand. Ihr Mann
Stefano Soddu ist ein sardischer Bildhauer. Zeitweise hatte Gabriella
zwei Galerien, eine mit Namen Bazart in einem Gebiet, das sich „Fünf
Höfe“ nennt. Die Häuser dort sind die ältesten von Mailand, doch
ist der Ort verdreckt und herunter gekommen. Dennoch gibt es einen
Schlagbaum und eine müde Bewacherin, die in ihrem Kabuff Radio hört
und vor sich hin dämmert. Sie lässt sich durch nichts überreden,
den Schlagbaum ausnahmsweise für eine Anlieferung zu öffnen. Die
vier vorderen Höfe beinhalten jeweils quadratische Rundgänge in
mehreren Etagen. Über diese rundum laufenden Balkone sind
haufenweise Wäscheleinen gespannt und es hängt vielfarbige Wäsche zum Trocknen.
Im letzten Hof befinden sich ein großes Atelier und zwei Galerien.
In der einen fand meine Ausstellung statt.
Die Arbeit mit den goldenen Papierflächen war so groß, dass ich
sie in meinem Atelier nicht aufhängen konnte. Schließlich legte ich
einen längeren Streifen von einem Meter Breite in der Küche aus.
Das war am Abend, bevor ich sie für die Abreise faltete und
verpackte, und so schaffte ich sie nach Mailand. In der Galerie
wischte ich zunächst den Boden, der aus ziegelroten, glasierten
Kacheln bestand. Dann legte ich die Streifen mit dem Gesicht nach
unten auf den Boden und klebte sie aneinander. Während der Arbeit
daran schauten Gabriella und Stefano gelegentlich vorbei, um den
Fortgang des Aufbaus anzusehen. Einmal erzählte ich ihnen, mein
Atelier sei so klein, dass ich nie mehr als einen Quadratmeter der
Arbeit gesehen habe. Das Gesamtmaß jedoch betrug etwas über 33
Quadtratmeter. Ich sagte ihnen, auch für mich selber werde es eine
große Überraschung, wie die Fläche wirken würden. Gabriella stieß
auf die Nachricht hin einen Ruf des Entsetzens aus und musste an
einem kleinen Tisch in der Ecke Platz nehmen. Sie saß dort und
schaute mich ungläubig an. Stefano begann zu lächeln: „Das
gefällt mir“, sagte er, „erst einen Quadratmeter gesehen.“
Ich hatte etwa zwei Monate gebraucht, um die Arbeit zu bewältigen. Als ich sie schließlich aufgehängt hatte, sagte Stefano: „Die Arbeit ist wunderschön, sie gefällt mir sehr. Aber ich glaube, du spinnst völlig.“
Text: I Due Leonardo
"Hintergrund dieser Ausstellung ist, dass ich bei der Komposition meiner Bienenarbeiten zunehmend den Goldenen Schnitt verwende. Gerade in den Papierarbeiten erscheint er mir häufig einleuchtend. Ich stehe vor der Frage nach der Anordnung und meistens kommt heraus, dass das intuitiv Gefundene nahe am Allgemeinen liegt. Daher war es mir ein Anliegen, die Angelegenheit auf die Spitze zu treiben und einmal im großen Format darauf einzugehen.
Der Goldene Schnitt ist ein geometrisches Teilungsverhältnis. Er taucht zuerst in der Antike auf. Euklid, der Grieche, sagte 300 v.C.: „Eine Strecke heißt stetig geteilt, wenn sich, wie die ganze Strecke zum größeren Abschnitt, so der größere Abschnitt zum kleineren verhält.” 200 Jahre später stellte Vitruv, der Römer, eine Verbindung zu den Maßverhältnissen des menschlichen Körpers her und machte daraus eine Verbindlichkeit der Architektur. In der Renaissance wurde der Goldene Schnitt unter der Bezeichnung Göttliche Teilung wieder aufgegriffen. Das wirft bereits ein Licht auf die Bedeutung, die er später bekommen sollte. Algebraisch ist die Teilung so beschrieben: Wurzel aus fünf minus eins, geteilt durch zwei. Eine sogenannte irrationale Zahl, sie endet nicht hinter dem Komma.
Leonardo da Vinci beschäftigte sich vor allem in seiner Mailänder Zeit ausgiebig mit Geometrie. Es heißt, er soll Modelle der Platonischen Körper nicht nur gezeichnet, sondern auch gebaut haben; das sind vielflächige und vielkantige Kugelinhalte, mit deren Hilfe in der Antike das Universum erklärt wurde. Zu ihrer Konstruktion ist mitunter der Goldene Schnitt nötig. Auch lieferte Leonardo da Vinci zahlreiche Illustrationen zu einem Mathematikbuch. Darunter ist die besonders berühmte, häufig bemühte Zeichnung des Vitruv´schen Menschen: Ein Mann mit vier Armen und vier Beinen, der einem Kreis und einem Quadrat einbeschrieben ist.
Der zweite Leonardo im Titel ist der aus Pisa, ein Mathematiker aus dem frühen dreizehnten Jahrhundert, der heute, wenn überhaupt, als Fibonacci bekannt ist. Er revolutionierte die damalige Mathematik, indem er die indische Rechenkunst einführte. Seine Lebensleistung ist, dass heute jeder nach dem von ihm importierten System rechnet. Allerdings wird er dafür wenig gewürdigt. In Mathematikerkreisen ist er berühmt für die Entdeckung einer einfachen Zahlenfolge. Sie lautet: 0-1-1-2-3-5-8-13-21-34-55-89-... . Man erhält die jeweils nächste Zahl als Summe der beiden vorhergehenden. Eine Besonderheit der sogenannten Fibonacci-Reihe ist, dass sie sich mit aufsteigendem Zahlenwert unablässig dem Goldenen Schnitt nähert, ohne ihn je ganz zu erreichen.
In der Romantik wurden beide, der Goldene Schnitt und die Fibonacci-Reihe, mit einer gewissen Zahlenmystik aufgeladen. Vor allem in der Natur schienen sie als unterliegendes Prinzip allerorten auffindbar, in Sonnenblumen, Tannenzapfen, Schneckenhäusern und Seesternen. In dieser Epoche bekamen sie die exklusive Bedeutung zugewiesen, die sie heute haben.
Die Flächen gehen einerseits auf die architekturalen Gegebenheiten ein, andererseits sind sie Fibonacci-Rechtecke. Das größere der beiden zum Beispiel besteht aus 89 mal 55 Quadraten. Das ergibt eine goldene Fläche von 6,35 mal 3,85 Metern. Monumental und doch leicht.
Welcher Aufwand zur Anfertigung der Arbeit nötig war, kann man sich vorstellen, wenn man die Anzahl der Quadrate berechnet. Es sind genau 6765, ebenfalls eine Fibonacci-Zahl. Allerdings ist meine Auffassung ohne die geheimnisvolle Zahlenspielerei der Romantik gedacht. Manchmal lege ich Arbeiten so an, dass ihre Ausführung erfordert, in langwierige, gleichförmige Tätigkeiten einzutauchen. In der Präsentation drängt sich der Aufwand aber nicht auf. Auch die komplexen Hintergründe, der Goldene Schnitt und die Fibonacci-Reihe, ziehen sich zurück. Im Vordergrund steht das sinnliche Erleben."
In Mailand begleiteten mich meine Tochter Sumile und meine Freundin T. Sumile saß mit ihrer orangefarbenen Mütze in ihrem Klappwägelchen und lächelte. T hatte sich ganz in den Schatten zurück gezogen, da die Temperatur sicher 35° C betrug. Als Helferin hatte ich Mirei Takeuchi, eine Schmuckkünstlerin, gebeten, uns zu begleiten. Obwohl ich alles sorgfältig vorbereitet hattet, traute ich mir den Aufbau nicht allein zu. So bewegten wir beide uns in Strumpfsocken über die länglichen, nebeneinander ausgelegten Streifen umgedrehten Papiers und klebten es zusammen. Das eigentliche Problem jedoch bestand in der Höhe des Raumes. Stefano hatte mir mitgeteilt, die Wände seien genau vier Meter hoch. Das stimmt, doch auf etwa 3,70 Metern befinden sich zwei in die Wand eingelassene Doppel-T-Träger. Dort liefen sonst womöglich Rollen für einen Flaschenzug. Da meine Fläche 3,85 Meter hoch war, stand ich vor einem Problem, das ich nicht hatte vorhersehen können. Ich setzte mich, scheuchte die anderen fort, vor allem Gabriella und Stefano, und dachte ernsthaft nach. Schließlich entschied ich mich, die Arbeit direkt unterhalb der Stahlträger zu hängen und sie am Boden -wie auf den Fotos zu sehen- zur Wand hin einzuschlagen. Diese Entscheidung war mir aufgezwungen, aber sie gab der Arbeit schließlich den endgültigen Schliff.
Prompt als die Arbeit hing, erschienen Gabriella und Stefano. Wir waren alle von der Erscheinung beeindruckt. Stefano klopfte mir auf die Schulter und sagte: „Du hast Mut.“
Zur Eröffnung bereitete Gabriella eine Broschüre vor, in die der Text über die beiden Leonardos gesteckt war. Genau genommen entwarf Gabriella ein Konzept, während Stefano und ich mit dessen Ausführung betraut wurden. Wir fuhren in seinem Auto durch Mailand, zu Copyshops und Fotogeschäften, und ratschten. In der Broschüre lagen auch zwei Fotos des goldenen Papiers, das ich verwendet hatte. Eines zeigt einen ganzen Packen, der in Plastik eingeschweißt ist, das andere eine Schachtel voll der Quadrate, die im Maß sieben mal sieben Zentimeter geschnitten sind. „Golden“ hört sich großspurig an. Ich glaube, es wird so hergestellt, dass eine dünne silbrige Metallschicht auf dickes, holziges Papier gewalzt wird. Entweder besteht das Silber aus Zink oder Aluminium, dachte ich. Danach wird mit einem breiten Pinsel ein orangener Farbton über das Papier gewaschelt, worauf die Metallfläche golden schimmert. Das Papier stammt aus China und wird „joss-paper“ genannt. joss bedeutet Pagode. Es wird für rituelle Zwecke benutzt, beispielsweise zündet man es an, wenn jemand gestorben ist. Und auf der Packung wird ausdrücklich darum ersucht, es nicht für Belanglosigkeiten zu verbraten. Der Großhandel, von dem ich es bezogen hatte, heißt ASIAEURO. Stefano setzte den Namen als Bezeichnung unter die beiden Fotos. Als Gabriella die fertige Broschüre sah, deutete sie auf den Firmennamen und sagte: „Das ist ein Leitmotiv.“
Während der Eröffnung erzählte Stefano jedem Besucher, wieviele goldene Quadrate verwendet worden waren. Dann lachte er.
Einmal nahm er mich beiseite und verwies auf den Zusammenhang zwischen dem Katzengold und der Armut der Bewohner in den vorderen Höfen.
Beim Abendessen in einer großen Runde erzählte Stefano, wie es war, als seine Frau und er zum ersten mal mein Atelier in München betraten und wir uns kennen lernten. „Wann war das?“, fragte er mich über den Tisch. „Keine Ahnung, vielleicht vor sechs Jahren“, antwortete ich. „Ok, sechs Jahre“, sagte er belustigt. Er war bereits jetzt schon heiter in Bezug auf die Geschichte, die gleich folgen würde. „B. hatte uns in sein Atelier geführt, Gabriella und mich. Und zunächst waren da endlos viele Papiere. Berge. Ein heilloses Chaos.“ Ich nickte mit dem Kopf. Damals herrschte in meinem Atelier ein ziemlicher Saustall. „Und wisst ihr, auf jedes Papier war eine Biene gezeichnet, oder mehrere. Ganz kleine. Oder Beine von Bienen, Flügel, das Innere, der Magen einer Biene, einfach alles.“ Ich nickte mit dem Kopf. Das war im Jahr 1999, als ich begann, mich mit Bienenanatomie zu beschäftigen. „Das erste was ich dachte ... Entschuldige!“, sagte er zu mir gewandt, „das erste was ich dachte war: Der Typ hat nicht alle Tassen im Schrank.“ Stefano legte eine Pause ein und lehnte sich zurück. „Tausende von Papieren“, sagte er und lachte. „Es war wohl seine Phase mit den Bienen.“