"all answers are answers to all questions" (Cage)


Ein Vortrag


Vor einigen Jahren machte ich einen Termin mit einer älteren Journalistin. Sie war unvermittelt auf mich zugekommen, wollte mich gleich sprechen und am nächsten Tag über Bienen interviewen. Wir trafen uns im Rosengarten, standen inmitten der farbigen Vielfalt im Rosenquartier und unterhielten uns über die geplante Befragung. Sie kündigte an, dass für sie mein anfängliches Anliegen wichtig sei und die zentrale Frage lauten würde: „Warum haben Sie angefangen zu imkern?“ Anschließend stieg sie in einen weißen BMW, was mir unverhältnismäßig schnittig vorkam, und brauste davon. Und ich stand da mit dieser monumentalen Frage. Ich fühlte mich ohnehin schon überrumpelt, aber jetzt war ich es erst recht.
Abgesehen davon, dass ich die folgende Nacht nicht schlafen konnte, weil ich keine Antwort wuss­te, ging es mir wie häufig: Ich beschloss, mir etwas zusammen zu reimen. Ich musste mir irgendei­nen stimmigen Grund, der zu meinem Lebenslauf passte, aus den Fingern saugen. Ich glaubte, dass eine Frage nur eine Antwort haben kann. Und zu sagen, dass ich keine Ahnung hätte, kam für mich damals noch nicht in die Tüte.
Zu dieser Zeit hatte ich die plastischen Grundformen im Blick: das Sechseckige in der wächsernen Zelle, die von den Bienen gebaut wird; das Taschenförmige der Wabe entsprechend der hängenden Form und Ausrichtung der Bienen; das abgeflacht Kugelförmige des lebenden Bienen­körpers. Der Mensch bringt, soweit er ihm dient, den rechten Winkel hinzu. Für die Nennung dieser Grundfor­men hatte ich mich schließlich entschieden.



Die sogenannte Kulturjurte. Das ist ein Nomadenzelt, das in München umher wandert und unbebaute oder ungenutzte Flächen vereinnahmt. Es ist eine Plattform für allerlei Veranstaltungen.

Heute möchte ich mich der nach wie vor offenen Thematik von der konzeptuellen Seite her anfreunden. In einer Erzählung, die ich für meine Tochter geschrieben habe, reproduzierte ich ein erfundenes mathematisches Universum, das ich den Bienen und ihren nächsten Verwandten, den Hummeln, zu­ordnete und in dem sich die Bienen von Blüte zu Blüte bewegen und dabei ständig diskutieren. Die Wissenschaftler wissen heute, durch Zuhilfenahme winziger digitaler Kameras, als befänden wir uns in einem modernen Spionagefilm, dass Bienen nie geradeaus ein Ziel anfliegen. Sie bewegen sich in Schleifen und Kurven. Das mathematische Universum, das ich den Bienen zuwies, ist der konjunktivische Zahlenraum. Zwei plus zwei ergibt nicht zwingend vier, es ergibt meistens vier, manchmal aber auch fünf oder drei. Es ist kein schlampiges Universum, wie man gleich als Ver­dacht äußern könnte, sondern eines, in dem es heißt: möglicherweise. „Zwei und zwei wäre gleich vier.“ „Wäre, wenn?“, fragt man. „Eben“, lautet die Antwort, „ohne wenn.“ Jedem herkömmlichen Mathematiker stehen jetzt die Haare zu Berge.

Die Aufstellung der Bienenstöcke im Städtischen Rosengarten am Schyrenbad, Stationierung habe ich es anfangs genannt, war von Anfang an eine plastische Arbeit und nie etwas anderes. Inzwischen habe ich viel darüber nach­gedacht, wie bei mir eine künstlerische Arbeit zustande kommt. Natürlich trägt das stark konzeptu­ellen Charakter, beschränkt sich aber nicht darauf. Und es veränderte sich mit den Jahren. Früher war die Ausführung strenger. Heute bestehe ich auf einem konzeptuellen Grundgerüst und lasse dann persönlichem Belieben, was von außen erscheint wie Willkür, größeren Raum.
In diesem Fall ist die Zeitachse wichtig. Zuerst hatte ich Blütenformen betrachtet und gezeichnet und alles, was bei uns wächst, über einen Jahreszyklus hin beobachtet. Man kann daher behaupten, ich stamme von der Pflanzenkunde her. Anschließend hatte ich einen Gemüsegarten ange­legt, wenngleich ich damit gescheitert war. Schließlich verlängerte ich das Gärtnern in die Bienenhaltung hinein. Diese Flugbahn berechnete ich. Bevor ich Bienen hielt, las ich viel darüber und fragte unentwegt und spielte meine gesamte Kraft als Nervensäge aus. Dann stellte mein damaliger Lehrer, Hausmeister in der Akademie, mir drei Völker in den Garten dort. Damit wurde ein neues Betriebselement in Gang gesetzt. Ich begann, mich mit den Bienen anzufreunden und zu erspüren, ob da etwas drin wäre zwischen denen und mir. Denn selbst das Imkern im Garten der Akademie trug noch, wenn man so will, Skizzencharakter. Und ich übereilte nichts. Man passiert immer wieder Schwellen, die zunächst unüberwindbar erscheinen. Jede wirkt wie die erste, weil sie wichtig fürs Ganze ist. Hat man es im Kreuz mit den Bienen und traut es sich zu? Oder springt man nur auf einen fahrenden Zug, weil viele das gegenwärtig tun? Glücklicherweise verflüchtigen sich alle Theorien und Philosophien nach den ersten Stichen. Dann steht man allein den Bienen gegenüber. Im weiteren Anschluss verschwindet das Gegenüber. Ich will nicht kitschig werden und es Verschmelzung nennen. Eher passt man sich dem natürlichen Rhythmus an. Doch das dauert und ich bin nicht sicher, ob ich dieses Stadium bereits erreicht habe. Heute ändern sich die natürlichen Gegebenheiten von Jahr zu Jahr, mal stürmt es monatelang, dann herrscht Dürre, dann regnet es unmäßig. Danach verläuft ein Bienenjahr regelmäßig. Für mich fühlt sich das an wie eine Schlinge, die mir um den Hals gelegt wird. Sie zieht sich noch nicht zu, aber ich bin sicher, dass der Schein trügt. Heute mit der Bienenhaltung zu beginnen, ist in dieser Hinsicht mutiger. Dennoch muss man sich verantworten. Hat man nämlich das Ganze nur begonnen, weil es gerade hip und modern und in aller Munde ist, oder sogar weil man sich verantwortlich für die entgleiste Natur fühlt, werden die Bienenkästen binnen kurzem verwaist dastehen. Die Bienenhaltung ist ein Aufwand, der über diese Gefühle, selbst wenn sie tief empfunden sind, hinaus geht. Um es ein wenig zu salopp auszudrücken: Man lernt nicht drei Jahre lang Schreiner, wenn in der Wirtschaft der Tisch wackelt. Dafür gibt es Bierfilzl.
Erst nachdem all diese ersten Hürden übersprungen waren, nachdem ich im einen Bereich geschei­tert war und im anderen einen gangbaren Pfad gefunden hatte und nachdem ich es als plastische Ar­beit gründlich durchgedacht hatte und nachdem ich sicher genug war, es mir zuzutrauen, in einem öffentlich zugänglichen Raum überhaupt Bienen halten zu können, stellte ich die Stöcke in den Ro­sengarten. Das war im Jahr 1995. Vor fünfundzwanzig Jahren startete das Projekt apicultu­ra, das sich dann zu meinem Label entwickelte. Welchen Umfang es annehmen und wie weit es rei­chen und welche Bedeutung es für mich gewinnen würde, ahnte ich nicht. Wie sollte ich auch? Doch davon ist heute nicht die Rede.
Zur damaligen Zeit gab es sehr wohl Imker in der Stadt. Doch mein Interesse ging über flüchtige Bekanntschaft nicht hinaus. Sie taten sich nicht hervor und zeigten mit dem Finger auf sich, sondern besetzten eine verborgene Nische, von der sie hofften, dass sie den Blicken entzogen bleiben würde. Sie fühlten sich nicht in der Lage zu vermitteln, dass Bienen und Stadt blendend miteinander aus­kommen. Für Kunst im Weiteren fehlte ihnen der Aufschluss. Ihr Verständnis von Malerei endete beim Blauen Reiter. Für plastische Arbeit kamen gerade noch Rodin oder Lehmbruck in Frage.
In Bezug auf Bienen existierten weder Initiativen, noch Plattformen, noch plastische Ansätze. Es gab kein Internet und keine Vernetzung. Die Imkerei lag, anders als heute, vorwiegend in der Hand alter Männer, die sich in verstaubten Imkervereinen zusammen fanden mit der dort üblichen Ver­einsmeierei, wie man sie beispielsweise in einem Tennisclub oder sonst, wo Menschen mit außerge­wöhnlichen Interessen sich sammeln, vorfindet. Sobald ich auftrat und die Bienenhaltung mit der Kunst verband, wurde ich belächelt oder von anderen Studenten als Beuysianer und Anthroposoph abgekanzelt. Dabei hatte ich, ohne es zu wissen, mehr mit Heiner Kirchner zu tun. Der hatte die Gießereiwerkstatt an der Akademie geleitet und das Wachsausschmelzverfahren beim Bronzeguss wiederentdeckt, anschließend war er Professor an der Akademie gewesen war und zudem der Professor meines Professors. Ich hatte ihn als junger Mann, etwa im Alter von 18 Jahren, flüchtig kennen gelernt, war in seinem Atelier in Pavolding gestanden, war einem freundlichen, verständnisvollen alten Mann begegnet. Der war mir als ein großartiger Handwerker erschienen. Damals wusste ich noch nichts von der Linie, die sich von ihm zu mir erstrecken würde. Kirchner war im Jahr 1984 gestorben. Ich bekam ich aus seinem Fundus die vierte Auflage von Enoch Zanders bienenkundlichen Werken geschenkt. Sie stammt aus den Fünfziger Jah­ren. (Das Original des Buches war jedoch im Jahr 1922 erschienen.) Zander hatte in seinem Buch mit Feder gezeichnet. Damit will ich sagen, dass die Kunst häufig bis an die Bienenhaltung heran reicht, kurz davor aber Halt macht. Selbst Beuys, der einen Schritt weiter gegangen war, hielt dennoch nie selbst Bienen, son­dern suchte im kritischen Augenblick das Wesenhafte und so weiter. Die Bienenhaltung, die alles ändert, kam für ihn nicht in Frage. Doch er war mit Günther Mahnke befreundet, einem Anthroposophen, der in der Eifel lebte und die sogenannte Weissenseifener Beute entwickelte. Sie besteht aus einem kugelförmigen, aus Stroh geflochtenen Korpus, der die Bienen unten ausfliegen lässt. Zwanzig Jahre blieb es mein künstlerisches Merkmal, die Bienenhaltung als plasti­sche Arbeit aufzufassen.
Gelegentlich ärgere ich mich deshalb über das Wort „Stadtimker“, das andere jetzt ein wenig zu dreist für sich reklamieren. Denn es wurde im Jahr 1998 über mich und mit mir in Bay­ern2Radio eine halbstündige Sendung ausgestrahlt, die genau diesen Titel trug. Sie lässt sich hier anhören. Doch über den flüchtigen Ärger, dass eine Gruppe etwas für sich be­ansprucht, das ihr nicht allein zusteht, geht das nicht hinaus. In der Kunst begibt man sich dort auf den wackligen Untergrund, der subsumierend in großer Geste als Diebstahl von geistigem Eigentum bezeichnet wird. Doch im Einzelfall wird es sofort unklar und die Stadtimker kämen in arge Be­drängnis, wenn ihnen ihr großartiger Name fehlte. Zudem gilt im Internet ein anderes Recht. Wer zuerst einen Stuhl für sich reserviert, besitzt ihn. Der Makel, dass es längst vorher von anderen ge­prägt und beansprucht worden ist, haftet dennoch an dem Wort. Hier liegt das einzige Moment, an dem eine konkurrative Situation entsteht. Ich will darauf nicht herum reiten, da apicultura mein La­bel geworden ist und ich unter diesem Oberbegriff den von meinen Bienen hergestellten Honig als Stadthonig vertreibe.
Ansonsten kann man auf das gemeinsame Tun schauen, auf das Halten der Bienen, oder auf die Be­weggründe, die dazu geführt, und die unterschiedlichen Haltungen, die sich daraus entwickelt ha­ben. Ob man gleichzeitiges, aber nicht gemeinsames Handeln erblickt oder Konkurrenz, fasse ich nicht als autoritären Belang auf, sondern diese Frage ist an jeden Zuhörer, mich eingeschlossen, überstellt.
Das beleuchtet einen grundsätzlichen Parameter meiner Anschauung. Meine Bienen sind kein Schild, auf dem steht: „Ihr müsst euer Denken ändern.“ Kein bedeutsamer Zeigefinger winkt und sagt: „Seht nur, hier auf dem Dach des Gasteig (oder anderswo an gewichtigen Stellen in der Stadt) stehen wir, um euch hinzuweisen auf die Katastrophen, die ihr in der „Natur“ angerichtet habt.“ Diese Trennung gibt es in meinem Denken nicht. Ich bin nicht einer der „Guten Jungs“, wie es im amerikanischen Spielfilm heißt, die die Welt retten. Ich bin nicht Bruce Wayne, der hinter der Kulturjurte sein Batman-Kostüm über­streift. Zwischen dem Betrachter und dem Betrachteten gibt es keinen Unterschied, wenn man es nur tief genug fasst.
Für meinen Ansatz stellte sich binnen kurzem heraus, dass mehr Kriterien galten als städtisch und öffentlich, wodurch sich die Anzahl der möglichen Orte drastisch reduzierte. Die Bienen, da ich Pa­letten und offene Aufstellung für sie vorgesehen hatte, mussten in einem Schutzraum stehen. Den findet man nur in Parks, die nachts abgesperrt werden. Der Ort musste zwar in der Stadt, dort aber mitten im Grünen liegen, da ich sie fern von Abgasen halten wollte. Weiter sollte ein Teil des Bo­dens tagsüber bewirtschaftet sein. Die Pflanzen sind mit den Bienen verwoben. Daher mussten sich nicht nur der Freizeitcharakter, sondern auch der Arbeitsaufwand gespiegelt finden. Das verlangte nach einem öffentlichen Kultur- und Anzuchtgarten. Schließlich blieb mir der Rosengarten am Schyrenbad. Für diesen Ort fragte ich in der Gartenbaubehörde nach und erhielt von der Stadt die Erlaubnis, drei Quadratmeter für einen Preis von dreißig Euro im Jahr zu pachten.
Die Menschen, die sich meinen Bienen nähern, erwerben leibliche Erfahrung mit ihnen. Das ist das Juwel. „Habe ich Angst“, fragen sich die Besucher? „Traue ich mich näher?“ „Kann ich in Anwe­senheit des Imkers, der mit Rauch hantiert, etwa den Wabensitz betrachten oder einen Blick in den brummenden Stock riskieren?“
Ursprünglich drehte sich mein Handeln einzig um das Wohlergehen der Bienen. Die Ernte blieb zweitrangig. Inzwischen ist der Honig als zweiter zentraler Baustein hinzu gekommen. Denn der, so wurde mir vor zwei oder drei Jahren klar, ist ein Botenstoff. Er ist sozusagen ein Neurotransmitter. Durch ihn erfolgt ein entscheidender Aufschluss, der den Menschen mit den Bienen verbindet. Aus dem Glas heraus über den Gaumen entwickelt der Mensch Interesse.

Die betagte Journalistin mit dem BMW, die ich anfangs erwähnte, und ich habe das schon an ande­rer Stelle erzählt, kam am nächsten Tag zur verabredeten Zeit und hielt mir ihr Mikrophon unter die Nase und stellte völlig andere Fragen. Ich war übermüdet und perplex und antwortete ohne zu Zö­gern. Vielleicht ist das ein Journallistentrick, dachte ich nebenbei. Das Interview wurde jedoch nicht ausgestrahlt, da sie sich vorher am Bein verletzte, und danach ging sie in den Ruhestand. Ich telefo­nierte gelegentlich mit ihr, aber so direkt wollte ich nicht fragen, da mir das indiskret vorkam.