Sehr geehrte Damen und Herren
Der große Überbau, unter dem der Vortrag eingeordnet wird, ist
das Projekt apicultura. Der Titel der Ausstellung heißt 35°C. Frau
Dohrmann hat sich als Bezeichnung für die heutige Lesung ausgedacht:
„apicultura: Von der Kunst zur Bienenkultur“, und ich habe eine
Weile gebraucht, bis ich mich damit anfreunden konnte.
Ich möchte es Ihnen nahe bringen, indem ich aushole und Ihnen
meinen künstlerischen Werdegang schildere. Dabei beginne ich dort,
wo solche sogenannten Initiationen stattfinden. Etwa als ich 17 Jahre
alt war, begann ich mühsam, den Ulysses von James Joyce zu lesen.
Geprägt haben mich Joyce, Beckett und Uwe Johnson. Und John Cage. Es wird Sie
wundern, dass meine ursprüngliche Erfahrung, auf die ich heute
zurück greife, das erste Wahrnehmen künstlerischen Ausdrucks, über
das Lesen geschah. Damals achtete ich übrigens darauf, mindestens
eine Stunde pro Tag zu zeichnen. Aber das passierte gewissermaßen
mit der Taschenlampe unter der Bettdecke oder so, als ob man die
Rechtschreibung erlernte. Dann stieß ich auf John Cage, und ich
entdeckte eine Vielfalt an Verknüpfungen zu Künstlern, Musikern,
Architekten der damaligen amerikanischen Moderne.
Im Anschluss mäanderte ich ein halbes Jahrzehnt ortlos durch die
Landschaft. Erst Mitte der Achtziger Jahre geriet ich in einen Kreis
von Leuten, die sich um Beuys geschart hatten. Man spricht heute
meistens abfällig von Jüngern, womit man Beuys umgekehrt
unterstellt, er sei ein Guru gewesen. Dazu kann ich wenig sagen. Es
kam nicht dazu, dass ich ihn kennen lernen konnte. Mein Kontakt war
Johannes Stüttgen. Er vermittelte mir seine Sicht. Die nahm ich als Original. Ausgestattet mit diesem Rüstzeug, mit seiner
Art, die Beuys´schen Objekte aufzuschlüsseln, betrachtete ich
beinahe alles, was es in der Öffentlichkeit zu sehen gab. Die
Zeichnungen waren damals weniger zugänglich, so dass ich auf
Kataloge angewiesen war.
Eines der großen Geheimnisse von Beuys ist, das wurde mir klar,
seine Arbeiten in den Ausstellungsräumen anzuordnen. Er spürte Raumachsen auf, die ich nicht erkannt
hätte, und an denen entlang richtete er seine Objekte aus. Mir
bleiben diese Linien verborgen, ich erkenne Hauptraumachsen und
empfinde es als schlüssig, mich an ihnen zu orientieren.
Während nun Joyce und Cage mich beflügelt hatten und ich
buchstäblich in den Wolken getrieben war, packte Johannes Stüttgen oder packte die Beuys´sche Arbeit mich und
stellte mich mit beiden Beinen fest auf den Boden.
Seit etwa 1984 beschäftigte ich mich mit Pflanzenkunde. Das für
mich wichtigste Buch, das ich damals unentwegt mitführte, trägt den
sportiven Titel: „Was blüht denn da?“ (Davon ist an anderer
Stelle bereits die Rede.) Zur Bestimmung werden weder die
Keimblättern genutzt, noch die grundständigen Blätter, noch der
Stängel oder alles zusammen einschließlich Blüte, sondern die
Gliederung erfolgt hinsichtlich der Blütenfarbe. Die meisten von Ihnen kennen dieses Buch wahrscheinlich,
denn es ist keineswegs speziell, man bückt sich hier und dort und fragt: „Was blüht denn da?“ Zusätzlich bekommt man ein geringes Hintergrundwissen, das man durch
gerichtete Forschung vertiefen kann. Wächst beispielsweise übermäßig
viel Löwenzahn auf einer Wiese nahe eines Bauernhofes, kann man sein
letztes Hemd verwetten, dass der Bauer es mit dem Odeln hält.
Löwenzahn ist ein Stickstoffzeiger.
Ich wusste zunächst nichts über Pflanzen und lernte, ging
Hinweisen nach und reicherte Grundwissen an. Ich stellte sogar
wässrige oder alkoholische Auszüge her und bereitete Brennesselsaft
oder Ringelblumensalbe zu. Ich war allerdings weit entfernt, ein
Pflanzendoktor zu werden. Das Interesse bestand nicht, sonst hätte
ich mich dazu aufgeschwungen. Genau genommen war ich zu versessen auf
die Blüte.
Vor dem Studium übrigens, das möchte ich noch kurz erzählen, unterhielt ich für kurze Zeit einen kleinen Nutzgarten. Dazu musste
ich natürlich ein Grundstück urbar machen, schwere Grassoden
ausreißen, festgetretene Erde lockern, papierne Samenpäckchen
aufreißen und die mickrigen Körnchen ausstreuen, alles, was eben so
anfällt. Es war eine elendige Plackerei, und ich kann im Nachhinein
ohne Scham sagen: „Mir gelang eine ausgezeichnete
Brennnesseljauche.“ Bei günstigem Wind stank sie über einen
halben Kilometer hin. Den Rest konnte man, wie man sagt, an die Haie verfüttern. Die Beete hielten dem Unkrautdruck nicht stand. Ich zog
Karotten aus dem Boden, die halb so lang waren wie mein kleiner Finger.
Ich konnte, um gleich beim Ursprung zu bleiben, nicht zwischen den
Keimblättern des Unkrauts und denen der Nutzpflanzen unterscheiden
und riss das Falsche heraus. Binnen kurzem stellte ich fest, dass ich
womöglich geeignet gewesen wäre. Doch es blieb beim Konjunktiv. Der
grüne Daumen wuchs an anderen Händen.
Zu Beginn des Studiums verfolgte ich die Angelegenheit mit den
Blüten und versuchte, sie in die Kunst zu holen und stellte weiter
fest, dass es nur gelegentlich funktionierte. Ich rannte gegen eine Wand. Oder
es gelang auf Umwegen. Ich hatte einen Stempel gesetzt, auf dem
„Erotisierung“ stand. Damit schlenderte ich im Mai 1990 durch
verschiedene Münchener Parks und stempelte Blütenblätter von
Heckenrosen. Und ich machte lustige Arbeiten mit tschechischen
Blumenpostkarten oder elektrischen Lichterketten aus Blüten. Ich zeichnete Pflanzen nach ihrer jeweiligen Gestalt und nach ihrem theoretischen Aufbau.
Ich werde häufig gefragt, mit welchem Material ich arbeite. Und
ich kann nicht antworten. Soll ich sagen, dass ich
Installationskünstler bin? Dabei habe ich keine Ahnung, was das sein
soll, ein Installationskünstler? Oder noch schlimmer, soll ich die
Wahrheit sagen und mich unmöglich machen? Beuys hielt an einer
altmodischen Klassifizierung fest, nach der es Bildhauer und
Plastiker gebe. „Die Bildhauer schlagen alles vom Stein weg, was
nicht nach Löwe ausschaut“, so hat eine Bekannte es einmal mit
einem Grinsen formuliert. Im richtigen Leben wäre ich daher Gießer
geworden. Das ist nahe dran. Metalle wie Blei, Eisen, Aluminium und
Zinn, und dazu Wachs, Gips, Beton kommen mir unter die Hände.
1987 begann ich zu studieren, Kunst, an der Akademie der Bildenden
Künste in München. Da grub ich mich zu dem verbindenden Element
zwischen den Blüten vor: Bienen, Hummeln, Schmetterlinge und alle restlichen bestäubenden Insekten. An vorderster Stelle standen die Bienen. Es
hatte einen kleinen "Zeitstau" (ein Ausdruck von Johannes Stüttgen) gebraucht, eine Schwelle, bevor
ich in dieses System eintreten konnte. Denn als ein Freund während
der frühen Achtziger Jahre Bienen gehalten hatte, war ich davon
unbeeindruckt geblieben. Nun aber war ich Feuer und Flamme. An der
Akademie lernte ich Franz Wagner kennen, der dort als einer der
Hausmeister arbeitete. Er lief meistens in einem grauen Kittel herum, und er hielt in einem Lärchenwäldchen, im Schweizerholz, außerhalb der nördlichen
Autobahnumgehung, ganz versteckt, in einem gepflegten Bienenhaus etwa
dreißig Völker. Sein Stand lag sowohl in der Nähe der
Schleißheimer Flugwerft als auch nahe am Lehrbienenstand
Hochmutting. Franz war Rumäniendeutscher und hatte bei Temesvar, wo
er Gießermeister gewesen war, nach der Arbeit mit seinem
Schwiegervater 400 Völker gehalten. Franz wurde mein Bienenlehrer.
Nachdem ich ihm hundert Löcher in den Bauch gefragt hatte, stellte
er mir 1992 drei übervolle Stöcke in den Garten der
Akademie. Die Hausleute schleppten dafür einen aufklappbaren
Verschlag herbei, in dem jemand früher bereits Bienen gehalten hatte. Wo
heute das unpraktische Gebäude der Coop Himmelblau steht, befand
sich damals die u-förmige Baracke, in der unsere Klasse
untergebracht war. In diesem stillen Gartenabschnitt begann die
Geschichte. Jemanden im Hintergrund zu wissen, den man fragen kann,
ist ein Schatz. Man kann von niemandem, der mit der Bienenhaltung
beginnt, diese Vorleistung verlangen. Doch sie scheint beinahe
unabdingbar. Lang nach dem Tod von Franz hatte ich seine
Telefonnummer noch gespeichert und ihr eine Kurzwahltaste zugewiesen.
Bei unklaren Situationen am Bienenstand, begann ich nervös nach dem
Handy zu fischen. Im Fall von Franz war ich nicht sicher, wer wen
gesucht hatte.
Kurz bevor er mir die Bienen hingestellt hatte, dachte ich mir das
Projekt apicultura aus. Ich kann mich nicht mehr erinnern, worauf
sich die allerersten Bezüge gründeten. Später behauptete ich, es sei
die Formensprache der Bienen, das Sechseckige, das Taschenförmige,
das Runde und so weiter im Verhältnis zur Formensprache des Menschen
gewesen. Das wären natürlich ganz und gar bildhauerische Gedanken
und das würde perfekt zur Legende passen. Heute tun sich derart
viele Bezüge auf, dass ich nicht sicher bin. Beispielsweise lässt
sich erkennen, dass die Magazinbeute ein Hängeregister ist. Ich will
darauf nicht näher eingehen, sondern mit einem Paradox antworten:
Ich arbeite innerhalb eines Reservoirs, das mit jeder Arbeit größer
wird.
In Bezug auf unsere Klasse tönte es aus der Akademie, also von
Seiten des Mutterschiffs, dass es „beuysle“. Manche, die das
behaupteten, kräuselten ein wenig die Nase dabei, als ob es fischle.
Sie meinten, dass Beuys, obwohl bereits verstorben, in unserer
Klasse eine übergroße, verheerende, dogmatisierende Rolle spiele,
dass Beuys uns geknebelt hielte und Heribert Sturm, unser Professor,
das auch noch zuließe. Es wurde gemunkelt und geraunt, und die Hexen
bei Faust waren nichts dagegen. Wir Barackenkinder galten ohnehin als
etwas unterbelichtet, doch indem man die übermächtige Figur auf uns
projizierte, hielt man sich selbst in Schach. Folglich schwebte der
aufblasbare Mann mit Hut über der Hütte aus Nachkriegsschutt. Das
ist natürlich poetisch gesprochen. Das Fass kam zum Überlaufen, als
ich die Stirn besaß, Bienen zu halten. Unbekannte feindeten mich auf
den Gängen des Haupthauses an.
Nachdem ich die ersten Stiche erhalten hatte, bekam ich damit
nicht nur die Immunität gegen Bienengift, sondern gegen Ideologie.
Ich benötigte kein Übersinnliches. Ich war kuriert. Ich fragte mich
eher, wie ich das Weitere hienieden durchstehen sollte. Denn nachdem
sich die Stecherei gelegt hatte, weil ich beschlossen hatte, mich
nicht weiter beeindrucken zu lassen, folgten neue und neue Blöcke,
die mich ans Tatsächliche banden.
Das Projekt apicultura ist nicht gegossen. Oder doch? Um es mit
einem Wortspiel zu sagen: Es passt wie angegossen. Ich stemple,
bearbeite Wände, nutze Bienen als Ursprung für Einfälle, habe mein
eigenes Label, verkaufe Honig, gieße Wachs, gieße im Übrigen auch
Honig, und so weiter. Die Ausformungen sind vielfältig. apicultura
ist die Quelle und der Zielordner. Wenn ich mich als Bildhauer
bezeichne, dann nur, um darauf hinzuweisen, dass ich dreidimensional
arbeite. Selbst das Abdrücken eines Stempels oder sogar der Anschlag
einer Schreimaschinentype ist für mich ein plastischer Vorgang.
apicultura bedeutet für mich Bienenhaltung und künstlerisches
Handeln in Verschränkung. Der direkte Umgang mit den Bienen war all
die Zeit über ständig Bestandteil. Man sieht davon wenig, aber er
lief und läuft im Hintergrund wie ein verborgener Motor. apicultura
ist das Wort, das die romanischen Sprachen gebrauchen und an dessen
Stelle wir Imkerei setzen. (Bienenkultur, wie sie hier im Prospekt
steht, ist die wörtliche Übersetzung von apicultura ins Deutsche.) In unserer Sprache fühlen wir, wie das Wort uns etwas behäbig über
die Zunge rutscht. apicultura hingegen eignet sich sowohl als
Projektname, als auch als Label, beispielsweise dasjenige, unter dem
der Stadthonig vertrieben wird.
Mich hat in apicultura sofort der Kulturbegriff angesprungen.
Während ich dieser Spur nachging, stieß ich auf die
Grundbestandteile Haltung und Pflege. Nur bekommen Bienen keinen
Schnupfen und man muss ihnen keinen Kamillentee kochen. Deren
Krankheit besteht hauptsächlich in der Varroamilbe und man kann
ihnen den ärgsten Druck vom Hals schaffen, aber sie nie ganz
befreien. Im nächst folgenden Jahr geht alles von vorne los. Die
verbliebenen Milben vermehren sich exponentiell. Man wandert stets
auf dem schmalen Grat, ob man beispielsweise zuviel Ameisensäure
zur Behandlung einsetzt und die Bienen schädigt oder zu wenig und
nicht ausreichend Milben erwischt.
Die Kunst ist nicht mit dem Projekt verbunden, das ist unscharf
ausgedrückt, sondern das Projekt ist seit 25 Jahren meine Art, mich
künstlerisch zu äußern. Nur möchte ich, wie ich es vorher getan
habe, die Person des Franz Wagner, der mich während der ersten zehn
Jahre unterstützt hat, manchmal nur als stiller Beobachter im
Hintergrund, als unabdingbar herein nehmen. Ohne ihn wäre das alles
nicht denkbar. Er rümpfte, obwohl Hausmeister an der Akademie, über
die Kunst die Nase und man durfte ihm damit nicht kommen. Das war das
Absurde.
Bedeutend ist eine Aussage des frühen Cage: Fragen ist wichtiger
als antworten. Was sieht die Biene? Was sieht der Mensch, wenn er
durch ein präpariertes Bienenauge schaut? Welche Farben sieht die
Biene (und der Mensch nicht)? Wie sehen Pflanzenpollen in der
Rasterelektronenmikroskopie aus? Welche Wege fliegt die Biene? Heute
sind meine Themen oft informatischer Art. Bienen sind eng verzahnt
mit Pflanzen und das macht Verständigung notwendig, doch wie geht
sie vonstatten? Wie kommuniziert der Bienenkörper als Ganzes mit dem
Imker? Ab welchem Augenblick erkennt der Imker, sobald er den Stock
geöffnet hat, was mit einem Volk los ist?
Der Vortrag schließt mit einer aufmerksamen Beobachtung von Frau
Dohrmann: Das gesamte Projekt apicultura ist unpolitisch gedacht,
wurde aber durch den unglücklichen Wandel unserer Umwelt zu einem
politischen. Diese Thema beschäftigte mich früher schon. Natürlich bin ich kein politischer Künstler. Ich weiß nicht einmal, was das sein sollte. Doch jede Arbeit an den Bienen, so entrückt sie wirken mag, ist mittlerweile zu einer politischen Angelegenheit geworden. Leider.
Vielen Dank
Von der Kunst zur Bienenkultur
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