VEB Bienenkultur


Im Frühjahr des Jahres 1990, unmittelbar nach den verheerenden Stürmen, die riesige Schneisen in den westdeutschen Fichtenwald schlugen und manchmal ganze Gebiete davon einfach umlegten, fuhren meine damalige Freundin und ich in die DDR. Das Wort verwende ich bewusst. Denn sie hatte zwar im November des Vorjahres offiziell aufgehört zu bestehen, doch sie existierte noch in den Köpfen der Bewohner, und in unseren. Es wurde mit einem Schlag still in den Gaststätten, wenn man herein kam. Die Tische waren alle gleich groß und standen ausgerichtet in Reih und Glied. Man bekam eine Speisekarte vor sich hin geklatscht, darauf stand als Vorspeise Soljanka, was wir in Westdeutschland nicht kannten und für eine ostdeutsche Spezialität hielten. Das Hühnchen hieß Broiler und man passierte VEB Broilergaststätten. In den Läden lagen kaum westdeutsche Produkte in den Regalen, und wenn, dann nur vereinzelt und keiner konnte sie sich leisten. Es gab nicht zehn Sorten Zahnpasta, sondern nur eine. Die Verpackungen bestanden hauptsächlich aus grauer Pappe, wie in den Wirtschaftswerten von Beuys. Wir stempelten abends mit Buchstaben, die ich mitgebracht hatte, auf weiße Karteikarten, die ich ebenfalls mitgebracht hatte, unsere Tageseindrücke in einzelnen Worten. Drüben kaufte ich einen Haufen Karteikarten im Format DIN A5, da es andere nicht gab. Sie waren liniert, bestanden aus einem weichen graugrünen Karton, waren holzig. Wir benutzten sie nicht.
Manchmal übernachteten wir bei fremden Leuten, bei denen wir uns einbettelten wie Bienen in fremde Völker. Bei denen saßen wir in seltsam überfrachteten Wohnzimmern und diskutierten die halbe Nacht, während wir Vodka tranken. Sie alle wollten zunächst die CDU wählen, sagten sie. Später käme vielleicht die SPD, darauf wollten sie sich noch nicht festlegen. Der Wein war zu süß und wurde aus Bulgarien bezogen; einzig das Bier und wie gesagt den Schnaps bekamen wir hinunter. Auf einem winterlichen Stadtplatz hatte sich ein feister Mann aus dem Westen postiert, mit einem dunkelblauen, protzigen, neuen Achtzigerjahre-Merzedes. Er schenkte aus seinem Kofferraum Underberg aus und zog dazu haufenweise Schnapsgläser aus Kisten. Hinter dem Wagen hatte sich eine Menge versammelt. Er erwartete, dass das Stimmvieh entsprechend des Schnapses mindestens CDU wählen ging, wenn nicht rechter. „Auf die Freiheit“, sagte er bei jedem Glas, nickte und erwartete ein bestätigendes Nicken.
Mit Gleichaltrigen kamen wir gar nicht ins Gespräch. Sie redeten einfach nicht mit uns. Saßen wir in der Wirtschaft nebeneinander, drehten sie sich weg.
Wir besuchten Buchenwald.
Diesen graugrünen Karton bedruckte ich später mit einem dunkelgelben sechseckigen Raster. Ich hatte eine Wabe zurecht geschnitten und sie mit Linoldruckfarbe eingewalzt. Der Druck erfasste genau den Bereich unter der oberen Trennlinie, im Textblock, wo der Karton schwach liniert ist. Darüber stempelte ich mit alten, in eine Plastikschiene gesetzten Buchstaben VEB Bienenkultur. VolksEigenerBetrieb. Die Idee war natürlich, dass das gegenseitige Protzen und Wettrüsten aus dem Kalten Krieg sich nicht auf die Bienen erstreckt haben konnte. Durch das geteilte Deutschland war zwar die Grenze zwischen Westen und Osten verlaufen, doch die Wabengröße musste in beiderlei Deutschland gleich gewesen sein. Im Gegensatz zu den Menschen hatte ein im Osten gestarteter Bienenschwarm durchaus im Westen ankommen können.
Später erfuhr ich aus einem Artikel, dass zur Zeit der DDR drüben hauptsächlich in Wägen geimkert worden war.

Im Jahr 2011, als ich einen Raum im Atelierhaus Baumstraße zwischengemietet hatte, genau um die Zeit, als die Arbeit finnegans bees langsam entstand, konnte jeder Mieter den scan eines Motivs einreichen. Davon sollten 1000 Stück auf einen starren, leicht glänzenden Karton im Format DIN A5 gedruckt werden. Die Rückseite war reinweiß und enthielt den Titel und den Namen. Ich gab meinen damaligen Druck ab. Ich arbeite im Grunde nie exakt auf diesem Format, selten einmal auf DIN A4, und nur, wenn es nicht anders geht.
Nachdem ich die schwere Kiste erhalten hatte, schob ich sie mit dem Fuß unter den Tisch und wusste nicht, was ich damit anfangen sollte.

Erst im Jahr 2015 begann ich Texte zu suchen, die Dichter oder Wissenschaftler über Bienen verfasst hatten. Die Palette reichte von Hölderlin bis Darwin. Ich stellte meine mechanische Schreibmaschine so ein, dass sie den roten Teil des Farbbands verwendete, tippte Zitate, die ich mir heraus geschrieben hatte und suchte neue. Die Schreibmaschine hatte große Schwierigkeiten, den starren Karton einzuziehen und alle Buchstaben musste ich doppelt anschlagen, damit sie sich überhaupt von dem dunklen Untergrund abhoben.


Im Jahr 2015 entwarf ich außerdem eine Arbeit, die nicht über das Anfangsstadium hinaus kam. Ich bemühte mich, aber es wurde nichts draus und sie ist hier nicht aufgenommen. Es ging um Blumenbriefmarken, die die Deutsche Post ungefähr vom Jahr 2014 bis zum Jahr 2016 heraus gegeben und von denen ich einen Haufen in einer Schachtel gesammelt hatte. Die wollte ich verwenden. Allerdings wollte ich unter Umständen auch die vorher erwähnten Bäckereibienen einbauen und auf jeden Fall noch einen Poststempel erstellen, der anstatt des Briefzentrums und dessen Nummer den Schriftzug APICULTURA trug. Obwohl die Arbeit weit gediehen schien, versandete sie doch. Selbst als ich die Bienen wegließ, kam ich nicht weiter. Es öffneten sich die verschiedensten Wege, aber keiner führte zu einem Ergebnis. Womöglich springt eines Tages ein haltbarer Entwurf hervor, aber dafür, wie lange ich mir den Kopf zerbrochen und daran gearbeitet hatte, einen gesamten Sommer durchgehend, war der Ertrag spärlich. Jetzt noch nicht, dachte ich, als ich aufgab. Einige der Blumenbriefmarken und auch ein wunderschönes Gedicht von Heinrich Heine und Textzeilen aus Finnegans Wake baute ich später in besondere Honigetiketten für drei Editionen ein. Das ist natürlich dokumentiert.

Erbe


Franz überließ mir im Lauf der Jahre eine Reihe von Kästen. Sie waren alle auf das Zandermaß ausgelegt und bestanden meistens aus einfachen Brettern oder Pressspanplatten, die zusammen genagelt waren. Die Böden und Deckel waren löchrig und im Vergleich zu den Seiten mit noch weniger Aufwand hergestellt. Den Deckel beispielsweise bildete in der Regel ein Brett, auf den eine zweite, dünne Holzplatte, durch deren Anwesenheit sich ein Falz ergab, mit ein paar Nägelchen festgeheftet und aufgeleimt war. Das machte es schwer, die Kästen ohne eine schützende Eindeckung, beispielsweise eine Aluhülle darüber, im Freistand einzusetzen. Im Sommer ging es gerade noch hin, doch nach zwei Jahren waren sie herunter gewirtschaftet. Für den Winter musste man die Bienen in eine wetterfeste Beute umsiedeln. Im Grunde waren diese Kästen natürlich für ein Imkern im Bienenhaus ausgelegt. Für Franz passten sie nicht mehr zum Rest. Er sonderte sie aus, da er auf Einheitlichkeit bedacht war. Überhaupt warf er ständig etwas weg. Ich wusste manchmal nicht, wo in seinem Herzen das sentimentale Festhalten angebracht war. Franz war sozusagen ein Zen-Lehrer, der auf dem Weg zu den Bienen an der Mülltonne vorbeigeht. Bevor er die Kästen also zerschlug, nahm ich sie eben. Besonders empfindlich sind natürlich solche aus mitteldichter Faserplatte. Der zweistöckige Ablegerkasten ist ein Beispiel. Franz hatte natürlich alles mit Abtönfarbe angepinselt und dadurch leidlich geschützt. Aber die Ecken und Kanten sind bestoßen, und die Platten saugen sich mit Feuchtigkeit voll und geben sie ab, fast wie ein Schwamm.
Für sein Bienenhaus hatte Franz etwa 50 einzelne Zargen gebaut. Die passten alle zueinander. Und die Böden und Deckel waren mit Finesse geschreinert. Die Seitenteile bestanden zu den Bienen hin aus dünnen Hartfaserplatten. Innen, unsichtbar liefen offenbar hölzerne Verstrebungen, ein Gerüst aus Fichtenholz. In die freien Räume hatte er passgenau Platten aus Styropor gefügt. Außen dann saßen Weichfaserplatten. Auf den Falzen, wo man mit dem Stockmeißel hineinfährt, lagen Streifen harter Buche. Seitlich waren die Kästen ganz glatt gehalten, damit man sie im Winter aneinander rutschen konnte. Vorne und hinten saßen je ein aufgeschraubter Eisengriff, jedoch klappbar und mit barock geschwungener Grundplatte. Offenbar verliefen darunter hölzerne Streben. Die Griffe, ehrlich gesagt, bildeten den Traum jedes Eisenwarenhändlers. Diese Kästen waren in Hellbraun gestrichen.
Im Haupthaus imkerte Franz überschlagsweise mit 15 Völkern, die im Winter auf zwei und im Sommer, zur Honigernte, auf drei Etagen saßen. Was dann noch übrig blieb, war als Reserve gedacht.
Weiter besaß Franz zwei Unterstände und dafür Styroporkästen. Die waren zugekauft und bestanden aus dem System „Spessartbeute“, und er pinselte sie in dunklem Braun an. Das ergab nochmal etwa 10 Völker. Überhaupt diese Streicherei mit Abtönfarbe, sie war sein Merkmal. Es war, als wollte er einen Vorbildlichkeitswettbewerb gewinnen. Nicht nur waren ja alle Bienenkästen gleich gestrichen, sondern auch alle hölzernen Flächen innen und außen. (Zusätzlich ging ihm nie die Arbeit aus.) Als einzige bunt übrigens waren die Anflughilfen für die Bienen. In seinem neuen Bienenhaus, das er gegen Ende zu besaß und wo er seine Nachmittage verbrachte, baute er viel um. Dort sah ich zum ersten mal, dass er, um Gerätschaften zu verbergen, einen Vorhang genäht hatte. Darauf liefen, in endloser Reihe, dunkelblaue Elefanten dahin.


Übrigens besuchten wir einmal, als wir uns bei ihm draußen im Schweizerholz aufhielten, den Lehrbienenstand in Hochmutting. Eigentlich hatte ich darauf gedrängt. Denn wir mussten dazu nur über einen Acker stapfen und über einen Zaun linsen. Der Platz war ordentlich, sehr aufgeräumt, aber farblos. Die Kästen waren in stumpfem, dunklem Militärgrün gestrichen. Das berührte mich unangenehm. Es hielt sich niemand dort auf, aber Franz wurde unruhig, er scheute den Kontakt mit Personen, die in entsprechenden Vereinen oder dem Imkerverband organisiert waren.



Während ich an einer Vereinheitlichung aller Kästen arbeite, jeder soll beliebig mit den anderen kombinierbar sein, trennte Franz die älteren Kästen, die er selbst gebaut hatte, von den neuen, die er gekauft hatte. Sie passten daher auch nicht zusammen. Sie bildeten zwei unabhängige Kreisläufe. Deshalb vermutlich sonderte er alle weiteren Formen aus. Für mich sind diese Kästen, die ich von ihm bekam, Erinnerungsstücke. Sie helfen mir, Franz im Sinn zu behalten. Insbesondere den bunten Ablegerkasten, obwohl er ja auf den Aspekt der Nützlichkeit hin gebaut worden ist und ich daran weiter arbeitete, sehe ich eher als folkloristisches Stück.
Der Ablegerkasten ist mit einem breiten, mehrfach gefalteten Zeitungsstreifen umwickelt. Er hält die beiden Teile zusammen. Der darauf gestempelte Satz stammt aus den Pisaner Cantos von Ezra Pound:

What thou lov´st well
       is thy true heritage