Der Goldene Faden

Die Arbeit besteht aus dreieinhalb Räumen mit vier Themen und ich präsentierte sie anlässlich der Ausstellung Tage mit erhöhter Schwerkraft, gemeinsam mit Michael von Brentano in Bruckmühl.

Natürlich ist der Titel eine Anspielung auf den „roten Faden“, nur auf sehr direkte Weise. Bereits in frühen Zeichnungen zum Bienenzusammenhang hatte ich einen zwei Zentimeter breiten goldenen Streifen, der sich am oberen Blattrand entlangzieht, eingesetzt. Er besteht, wie bei der Arbeit in Mailand, aus sogenanntem joss-paper, einem einfachen chinesischen Andachtspapier. Im Kapitel „Gold“ der Honiggeschichten wird davon ausführlich erzählt. Der Streifen entspringt der Beobachtung, dass Bienen ihre Produkte in hängenden, taschenförmigen Bauten unterbringen. Auch die Traube des Bienenschwarms hängt an einem Ast nach unten. Hat man den Schwarm nicht sofort, sondern vielleicht erst nach einem Tag gefangen, erkennt man bereits feine Spuren von Wachs, die an der Unterseite des Astes angetragen worden sind. Der Beginn einer Wabe.
Im Bienenstock begann die imkerliche Revolution mit dem Einsatz des beweglichen rechtwinkligen Holzrähmchens, in das die Bienen ihre Wabentaschen hängen. Im Übertrag ist das Papier die Plattform der Bienenthemen und der goldene Streifen die Anspielung auf hängende Einlagerung.



Die Arbeit „der goldene Faden“ war in Bruckmühl über ein Stockwerk ausgebreitet: drei Räume und ein Flur. Die goldene Linie lief in derselben Höhe dahin, einmal rundum. Als ich in der Vorbereitungsphase aus einem Plan die Gesamtlänge aller Wände addierte, kam ich ich auf etwa 50 Meter. Natürlich täuscht diese Zahl, denn man quetscht nicht in jeden Winkel ein Blatt. Ursprünglich hatte ich sogar vorgehabt, immer wieder Strecken leer zu lassen. Aber bei der Hängung stellte ich fest, dass dafür die Räume zu verschachtelt waren, und es wurde mir stattdessen wichtig, den Eindruck von Fülle auszulösen.



Für den ersten und größten Raum bemühte ich die Arbeit zur Bienenanatomie, die im Jahr 2000 teilweise in der Offenen Galerie im Gasteig in München ausgestellt gewesen war. Damals hatte ich nur einen kleinen Teil der Blätter zeigen können. Auch diesmal reichte der Platz nicht im mindesten, und ich beschränkte mich auf einige Leitmotive: die Samenblase der Königin, die Wahrnehmungsorgane einschließlich der Ganglien, verschiedene Muskulaturen und so weiter. Zwischen diese schwarzweißen Blätter voll ausgefallener, üppiger Formen montierte ich Geschenkpapiere mit Blumenmotiven.



Der zweite Raum war still und zurückgenommen. Dort behandelte ich verschiedene Formen der Beute, beziehungsweise deren Entwicklung vom Baumstamm zum Magazin, sowie diverse Arten von Körben. Meine Aufarbeitung dieses Themas ist nicht abgeschlossen, sie ist weder systhematisch noch erschöpfend, aber die Anzahl der Blätter sprengte bereits den Rahmen. Es war mein Lieblingsraum. Die Formate sind kleiner und die Aufnahmen schwarzweiß, jedoch auf dem Farbkopierer vervielfältigt, wodurch eine latente, schwache Farbigkeit entsteht. Neben die überbordenden Naturformen war die orthogonale Schlichtheit der menschlichen Formensprache gesetzt. Allerdings brach ich die Kälte des rechten Winkels, indem ich vorwiegend alte Kisten aus Holz zeigte.



In den dritten Raum gelangte man durch den zweiten, und er war der pure Gegensatz. Hier verwendete ich mit dem Rasterelektronenmikroskop aufgenommene und bunt eingefärbte Blütenpollen in gigantischer Vergrößerung. Meine Hauptarbeit war die Komposition der vielzahligen Anordnungen innerhalb jedes Blattes. Die Motive sind wie meistens in umgebende Träger eingelassen. Diesmal jedoch ist es Transparentpapier, das beidseitig mit klarsichtiger Klebefolie versiegelt ist. Nach dem hermetisch stillen Raum kam also ein überaus bunter mit großen Formaten und spiegelnden Oberflächen.



Da das Rasterelektronenmikroskop nur schwarzweiße Bilder liefert, erarbeitet eine Person am Rechner eigens die Einfärbungen. Die tatsächlichen Farben lassen sich wegen der Winzigkeit der Partikel nicht erkennen. Betreffs der Färbung gibt es national unterschiedliche Auffassungen. Die Amerikaner, wie ich las, kolorieren die gleichen Aufnahmen in den schrillsten Farben. Bei uns spürt man dem Wahrscheinlichen nach. Dennoch ist das Buch, aus dem ich die Aufnahmen habe, ein einziger Farbrausch.



In dem schmalen Flur übrigens hingen drei Variationen von Ambrosiusfiguren. Er ist unter anderem Schutzpatron der Imker. Vor allem in Osteuropa ist die Tradition der Figurenbeute verbreitet. Oft lebensgroße, geschnitzte Holzfiguren waren Bienenbehausungen. Sie wurden von der Rückseite bestellt, während die Bienen vorne durch Öffnungen wie beispielsweise den Mund
aus- und einflogen.

Tage mit erhöhter Schwerkraft

Michael von Brentano und ich teilten uns das Kunsthaus in Bruckmühl. Im Erdgeschoß präsentierten wir gemeinsam einen Raum, im ersten Stock zeigte ich Der Goldene Faden und unterm Dach zeigte Michael seine Arbeit.

Rede von Wilhelm Warning
gehalten zur Eröffnung der Ausstellung
von Michael von Brentano und Christoph Scheuerecker
in der Galerie Markt Bruckmühl
am 29. Oktober 2006



Einen schönen Sonntag, meine sehr verehrten Damen und Herren. Vielleicht ist es ein Sonntag mit erhöhter Schwerkraft. Aber was soll dieser merkwürdig Titel überhaupt, der so geheimnisvoll klingt. Was könnten wir uns vorstellen unter Tagen mit erhöhter Schwerkraft? Versuchen wir, uns dieser geheimnisvollen Wendung mit poetischen Assoziationen zu nähern. Es könnten Tage sein, die drücken, die etwas Bleiernes haben, die es schwer machen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die uns am Boden halten, keine Sprünge erlauben, keine leichten und eleganten Gedankenflüge, die uns um die Welt tragen. Vor Jahren sah ich einmal die Arbeit eines jungen Bildhauers, der sich fotografierte, als er in die Luft sprang. Die Fotos zeigten seinen leicht verwischten Körper, der abhob, sich von der Erde entfernte, aber nur für einen Augenblick, um dann wieder zu Erde zurück zu fallen, der verwischte Körper, gleichsam schwerer und schwerer werdend, auf dem Boden aufkommend. Vorbei der Flug, vorbei das Abheben. Die Schwerkraft hielt ihn am Boden. Klar, sagen Sie, und denken, dass dies ja ganz banal sei. Ohnehin klar. Zu einfach. Und ich antworte, dass es ein alter Menschheitstraum sei, ein Mythos, dass er, der Mensch, abheben könne, Sache des Künstlers, der nun mal und seit Alters her auch Erfinder sei, also einer, der etwas suche, etwas wahrnehme, etwas finde, eine Sache, eine Idee, ein Material, der dies in eine andere Sphäre transponiere, also hinüberhebe, oder, noch genauer, durch etwas ganz hindurch setze oder lege oder stelle. Es, mit anderen Worten: übersetze. Das bedeutet das lateinische trans-ponere. Da sind wir bei der ursprünglichsten Bedeutung des Bildhauers. Des Bildners. Des Plastikers. Denn der kann aus einem Stamm z.B. etwas wegnehmen, um der Idee, die er in sich trägt, Form zu verleihen. Oder er kann etwas hinzufügen, es aufbauen, um seine Vorstellung entstehen zu lassen. Bleiben wir deshalb noch beim Schaffen der Bilder und kommen zum, sagen wir, „Bildhauer des Uranfangs“. Denn viele Schöpfungsmythen beziehen sich darauf, nicht zuletzt die biblische Erzählung. Moses 1. Gott bildet das erste Menschenpaar aus der Erde. Die Urmenschen. Er bildet sie nach seinem Bilde. Das steckt ja im Wort bilden. Er bildet sie und beseelt sie. Haucht ihnen Leben ein. Sie, Abbilder seines Seins. Religiös gesprochen sind Sie, jeder von ihnen, bin ich, sind wir alle Abbilder Gottes. Oder sollten es sein. Sollten uns wenigstens dessen bewusst sein. Keine Angst, keine Sonntagspredigt folgt, sondern hoffentlich das Eröffnen einer Ebene, die bei aller Ironie, die wir in den Kunstwerken hier auch finden, einen tieferen Blick ermöglicht. Also: Der Mensch als Ikone Gottes. Als, bitte sehr, Geschöpf. Das erzählen übrigens nicht nur die christlich-jüdischen Uranfänge, sondern auch die anderer Kulturen. Im Islam etwa gibt es eine Erzählung, nach der Allah den Körper aus Lehm formte und die Seele bat, in dem Körper Platz zu nehmen. Die wollte aber nicht. Darauf bat Allah einen Engel, die Seele mit einer Flöte in die tönerne Haut zu locken. Was auch geschah, weshalb die Sehnsucht des Menschen nach schwerelosem weil körperlosem Sein bei und mit Gott stets mit der Musik verbunden ist. So erzählt es die Geschichte und bringt uns in einem Zirkel zurück zu dem Bildhauer und seinen Luftsprüngen. Denn sie zeugen von nichts anderem, von der Sehnsucht nach Schwerelosigkeit, nach, etwas übersetzt gesprochen, innerer Unabhängigkeit. Ich hatte vorhin vom Finden und Erfinden gesprochen, dem Beobachten, Wahrnehmen, Sehen, dem Umherschweifen mit allen Sinnen, das doch alles zum künstlerischen Prozess gehört. Und wir sind nicht nur lange schon bei den Arbeiten von Michael von Brentano und Christoph Scheuerecker, sondern bei einem ihrer mythischen Urvorfahren. Bei Ikarus nämlich, dem griechischen Heros und Urbild aller Erfinder, aller Finder, aller Künstler. Der den Vogelflug, beobachtend, imitieren wollte, um die Erdenschwere zu überwinden, um sich in die Lüfte zu erheben und damit aus seinem gefangenen Dasein zu entfliehen. Holz und Wachs und Federn benutzte er. Doch ach, zu nah der Sonne kommend schmolz das Wachs und er stürzte, der Schwerkraft folgend, zu Boden. Das Fliegen, das Schweben, bleibt der Götter Sache. Wer sich anmaßt, Schöpfer sein zu wollen wie Gott, muss das Paradies verlassen und mit der Sehnsucht leben nach jenem unbelasteten, schwerelosen Zustand, von dem in der islamischen Geschichte die Rede ist.



Aber weshalb so viel Zeit für all diese Gedanken? Weil sie ganz unmittelbar mit den Arbeiten der beiden Künstler zu tun haben.
Beide sind Finder und Erfinder. Beide verbindet der Prozess des Suchens und des Wahrnehmens. Draußen, in dem, was wir Natur nennen, und drinnen, in den Räumen der Kunst. Und: Sind wir nicht selbst Natur und zeigt uns das nicht Michael von Brentano, wenn er das menschliche Herz, jenes stärkste und vermutlich aufgeladenste Symbol immer aufs Neue kombiniert, hier etwa mit Gehörn oder mit Rosen, künstlichen Rosen noch dazu? Es sind ironisch witzige Anspielungen auf Kitsch und Klischee und Sentimentalität und Pathos. Kann man Herzen erlegen? Vielleicht eine Don Juan Anspielung? Eine Männer-Jäger-Macho-Traditionsanspielung? Oder ein Hinweis darauf, dass immer noch das erfolgreichste Männchen die meisten Herzen bekommt? Oder einst bekam? Der Macht wegen? Sehen Sie, welche Räume geöffnet werden, die Sie durchstreifen können, ganz ohne Schwerkraft. Oder, eine andere Ebene: Dass hier ein Draußen und Drinnen gezeigt wird: Gehörn – draußen – gewachsen – natürlich. Und dann dazu: Herz - drinnen – künstlich – verfremdet. Vor allem aber auch: abgeformt. Jedenfalls in dieser und den anderen Arbeiten doch ein Stück Schwerkraft überwunden. Etwas gefunden, erfunden, erbildet, eben: poetisch nicht er - aber verdichtet. Und dann, bei Christoph Scheuerecker, die, so nennt man das, Installation der Bienenwachsbirnen. Eine Setzung im Raum. Auch hier innen und außen. Bienenwachs. Symbol für Natur, für durch natürliche Kräfte umgewandelte Natur, für Metamorphose, für Veränderung von Flüssig und Kristallin, für Form und Entformung und erneute Formung. Für Energie und Leben. Wie das Herz ein hochdifferenziertes, ja, nicht nur Symbol, sondern, etwas pathetisch gesagt: ein Lebensgeheimnis. Und was macht der Künstler: Er gießt das Wachs in Glühbirnenformen. Schlechthin Symbol für Innen. Für Aufhebung des Tagesrhythmus, für Künstlichkeit, für artifizielle Sonne – Sonne, die in Wachs und Honig gleichsam gegenwärtig ist, weshalb Bienen diese ganz außergewöhnliche Bedeutung haben – nicht nur des vermarktbaren Produkts Honig wegen, den wir im Supermarkt kaufen können. Auch wieder: Natur und Künstlichkeit, und wir können die Ränder schon oft genug nicht mehr unterscheiden. Steigen Sie hier im Haus die Treppen hinauf und sie begegnen, um bei Christoph Scheuerecker zu bleiben, auf vielfach andere Weise den Bienen. Aber eben auch Natur und Künstlichkeit. Und dem Vogelflug der Phantasie. Dem Ikarus – der an Tagen mit erhöhter Schwerkraft kämpfen muss. Schade, es ist nicht die Zeit, auf alles genau einzugehen und es wäre doch ein so weites und reiches Feld. Deshalb nur Hinweise, dicht gedrängt: Heilige sind da zu sehen, für Bienen zuständig, Ambrosius, Bischof von Mailand, Theologe und Hymnendichter. Sie wissen um Geschöpflichkeit und Leben in Ehrfurcht. Vielleicht deshalb haben sie einen besonderen Platz. Und, sind so angeordnet vom Künstler, der sie gefunden, vorgefunden und verändert hat. Der sucht und versucht zu erkennen und Erkanntes zu formulieren, der Vorbilder nimmt, der Abbilder kopiert, technisch, der abgießt und zeigt, dass hinter all dem vielleicht ein Urbild steht. Der Gefundenes zusammensetzt, der eingreift, auch mit einem Zeichenstift, der komponiert und kombiniert, der auf seine ganz eigene Art bildhauerisch poetisch arbeitet. Gedanken zu dem, was ich anfangs darlegte, Gedanken über Urbild und Abbild, über Schöpfung und Nachschöpfung, um Original und Kopie, auch um Deutungsvielfalt durch winzige Veränderungen des Zusammenhanges werden da voller Respekt vor den Fundstücken ausgebreitet. Vor den Zeichnungen aus Forschungsbänden über Bienen. Vor den Bildern der ins Riesenhafte vergößerten Pollen. Vor den Behältnissen, den Bienenhäusern: Achtung, wieder kommen Kultur und Natur zusammen. Und auch, wenn Blumen und Blüten als aufgefundene, fast poppige Massenblätter, Einwickelpapier dazwischen gehängt plötzlich einen eigenen, skurrilen Reiz und eine merkwürdig ironische Schönheit entfalten. Und ganz oben, unter dem Dach, das Zelt, das Bergsteigerbiwakzelt, das doch eigentlich auf den Boden gehört und dort oben eine bizarre Situation markiert. Mit ihm, dem Zelt und dem Video und den – ja, da haben wir sie wieder – Abgüssen sind wir bei Michael von Brentano. Auch er formt ab. Auch bei ihm geht es um die Frage, was es denn ist, das Original. Und auch um die Spannung: Gipsabgüsse, bitte sehr, kennen wir von antiken Kunstwerken, von Meisterwerken, es gibt Menschen, die sich ihr Haus füllen mit Kopien, und Goethe, wer denn auch sonst, verbreitete sich über ihren Wert. Und was macht Michael von Brentano: Nicht das Kunstwerk wird abgegossen, sondern die Natur, die dann in ein Kunstwerk gleichsam überführt wird. Aber auch hier sind die Ebenen vielschichtig. Zum Beispiel der Abguss von Kuhfladen. Was nichts anderes ist als verwandelte Materie. Umgewandelte Energie. Und doch unbeachtlich, scheinbar, unerheblich, und als Kot geradezu tabuisiert. Trotzdem Zeichen von Leben und Sterben und Natur. Neben allem Witz sind auch hier wieder Gedanken formuliert zu Drinnen und Draußen. Aber Sie können das ruhig schmunzelnd doppeldeutig verstehen. Übrigens: Sieht man den weißen Abguss, ist die Form offen, es könnte auch angerührter Gips sein, der aus dem Topf platschte. Dann die Äste, nein, die Abgüsse einer Schwemmholz-Astgabel, die ja dann durch das Gießen beliebig vermehrt werden kann, zu einer ruhigen Raumskulptur im Trockenen gefügt, unter dem immer wieder zu sehenden, unruhigen Lauf des Künstler durch den Wald. Auch das Abbildhafte. Wie alle Filme. Und: Wiederholung, was zusammen zu sehen ist mit der Vervielfältigungsmöglichkeit der Abgüsse. Da sind wir wieder beim Thema Kopie, die Christoph Scheuerecker nutzt. Übrigens: Wie identisch sind Abgüsse? Oder Kopien? Auch dies Fragen, die sich anhand der Arbeiten beider Künstler stellen lassen. Oder die Fotos, die Michael von Brentano als Abbilder zu einer Skulptur geformt hat, beleuchtet mit einer Schreibtischlampe, dem Symbol für abendlich-nächtliches Denken oder Lesen im Raum. Dem Gegenteil von Tagesrhythmus. So viele Berührungspunkte haben die beiden Künstler, gerade waren es die wächsernen Birnen hier unten und die Lampe dort oben. Wie gesagt, ein Spiel mit dem Doppelsinn, mit den Verschiebungen, ein bildnerisches Nachdenken, ein bildfinderisches, ein bildhauerisches Nachdenken über Fragen von Natur und Kunst und Poesie, Künstlichkeit und Natürlichkeit, Abbild und Original und damit über Themen, die bis in die tiefste Vergangenheit reichen. Wie sagt Michael von Brentano auf dem Bildschirm im Iglu-Zelt: "Lassen Sie uns über Leben und Tod sprechen." Unsere Antwort wird die abgefilmte Kopie des Originals niemals hören. Auch das ein Bild, eine Metapher, die auf den Anfang zurück verweist: Die Abbildhaftigkeit des Menschen.
Zum Schluss noch ein Hinweis: Kataloge beider Künstler sind unten zu erwerben, da steht alles genauer und ausführlich drin. Und ein Kunstwerk gibt es da, das Sie kaufen können: Das Büchlein „Honiggeschichten“ von Christoph Scheuerecker.
Vielen Dank für Ihre Geduld.

Wilhelm Warning

Bienenstockbrettchen


„In bestimmten Landschaften Sloweniens hat sich über zwei Jahrhunderte“, dem Achtzehnten und Neunzehnten, „die einzigartige Tradition herausgebildet (...), die Stirnbrettchen der hölzernen Bienenstöcke mit religiösen und profanen Bildern zu bemalen.“ Zu einer meiner Ausstellungen, ungefähr im Jahr 2006, bekam ich von einem Freund einen Katalog geschenkt. Er trug den Titel „Bunte Bilder am Bienenhaus“ und er war anlässlich einer Präsentation dieser bemalten Brettchen im Bayerischen Nationalmuseum im Jahr 1991 heraus gegeben worden. Man hatte so viel Material wie möglich zusammen getragen und einen kunsthistorischen Katalog gedruckt. Das Augenmerk allerdings beschränkte sich vorwiegend auf die Untergründe, die Farben und Lacke und erst recht auf die Motive und wie sie sich gliedern ließen. Mich hingegen interessierten sofort die Kästen, die sich dahinter erstreckten, und ihre Abmessungen. Wie ich erkennen konnte, waren es einfache Lagerbeuten, nicht allzu groß, und mit dünnen Wänden. Im Winter mussten sie sicher in Bienenhäusern untergebracht werden und im Sommer, beim Wandern, stellte man sie in den Schatten. Die Formate sind nicht gleich. Manche ähneln in der Proportion dem heutigen Zandermaß, sind aber deutlich kleiner. Manche ähneln dem Dadant- oder dem Deutsch-Normal-Verhältnis. Wie es in einem ersten Aufsatz heißt, sind die Brettchen meistens zwischen zwölf und fünfzehn Zentimetern hoch, sie sind querrechteckig und das Verhältnis von Höhe zu Breite liegt zwischen 1 : 1,8 und 1 : 3,5. Die häufigste Proportion liege aber bei 1 : 2,3. Das Flugloch befand sich als Schlitz unten am Stirnbrett. Als ich meine Bienenstöcke aufstellte, brachte Franz mir bei, auf welche Temperaturphasen der Bienenhalter im Lauf eines Jahres reagieren muss. Daher schnitt ich Aluminiumbleche im liegenden Querformat zu und brachte darin ein größeres und ein kleineres Flugloch unter. Die Höhe betrug jeweils acht Millimeter, da diese den Bienen entspricht und die kleinste Feldmaus, die sich nur durch ein Loch von zehn Millimetern Höhe zwängen kann, abhält. Danach lackierte ich die Bleche in unterschiedlichen Farben und schraubte sie vorn an die Kästen. Die Farbe, wie man weiß, bildet eine zusätzliche Orientierungshilfe für die Bienen. Weiter kommt vermutlich das Sterzeln hinzu. So bezeichnet man das Emporrecken des Hinterleibs, während die sechs Beine der Biene fest aufs Flugbrett gestemmt sind. Die Biene klappt das letzte Segment ihres Hinterleibs schräg nach unten und öffnet eine Drüse, die einen Lockduft produziert, und sie fächelt den Duft vom Stock weg in die Luft. Man ist sich, wie bereits gesagt, noch nicht sicher, ob er der jeweilige Stockduft den anfliegenden Bienen als Orientierungshilfe dient, geht aber zunehmend davon aus. Bei den farbigen Hilfen stelle ich es mir so vor, dass hier quasi die seitlichen Positionslichter einer Landebahn aufleuchten, die einem Piloten, zusätzlich zur Instrumentennavigation, eine optische Hilfe zur Landung geben. Der ausgesendete Duft rieche melissenartig, wird gesagt. Auch welchen Stellenwert er innerhalb der gesamten Bienenorientierung hat, beispielsweise in welchem Verhältnis er zur Farbe der Brettchen am Bienenstock steht, kann ich nicht sagen. Außerdem ist mir nicht klar, wie sich die Düfte, die von den einzelnen Völkern ausgesendet werden, unterscheiden.





Auf Fotos von Gestellen, die man sich ein wenig umständlich auf den Rücken schnallte und die dem Wandern mit den Bienen dienten, erkennt man, dass die Stöcke häufig ähnlich lang und etwa gleich breit sind, aber unterschiedlich hoch. Am Schluss des Kataloges ist eine Bauanleitung eingefügt. Dort sieht man, dass sie für alle Beuten gleich ist. Fünf Bretter wurden zusammen genagelt, während man ein sechstes als Deckel obenauf legte und festspannte. Das bemalte Stirnbrett wird von allen Seiten gehalten. Diese simple Bauweise faszinierte mich. Noch nicht mit in der Zeichnung enthalten waren die späteren Auflageleisten. Die hängenden Waben, in hölzernen Rähmchen und mit Mittelwänden, die aus Wachs gegossen waren, entwickelte man in Slowenien um die Mitte des Neunzehnten Jahrhunderts. Es gab danach einige Bemühungen, die Maße zu vereinheitlichen, indem man beispielsweise das sogenannte Deutsch-Normalmaß einführte. Gleichzeitig bemühte man sich, Absperrgitter zu verbreiten, um den Brut- vom Honigraum zu trennen, wie es heute üblich ist. Doch da viele Bienenhalter weiterhin im privaten Bereich verblieben und ihre Kisten zusammen nagelten, ohne nähere Kenntnisse der Tischlerei zu haben oder sich auf die neusesten Entwicklungen in der Bienenkunde einzustellen, blieben sie bei der hergebrachten Imkerei, bei der die Bienen ihre Waben an den Deckel eines Kastens hängten und drinnen wild bauten. Doch was im Slowenien des Neuzehnten Jahrhunderts dem natürlichen Entwicklungsstand entsprach, ist heute verschroben. Man kommt bei jener Betriebsweise heraus, die von der anthroposophischen Plattform mellifera propagiert und als wesensgemäß bezeichnet wird.
Für die Bienenstockbrettchen an den slowenischen Kästen, das erfährt man nach und nach, ergab sich eine ungefähre Breite von 35 Zentimetern. Das war das Maß, auf das sich die Maler einstellten. Die Kästen unterscheiden sich vorwiegend in Bezug auf die Höhe.
(Natürlich reizte es mich sofort, ein architektonisches Modell eines dieser Kästen aus Gips nachzubauen. Ich plante, es in der Mitte eines Architekturbüros auf einen Sockel zu setzen und außen herum, an den Wänden, die farbigen Motive auf Papier gedruckt zu präsentieren. Da es sich um eine Behausung handelt, wenngleich nicht für Menschen, fand ich, hat man es mit einem architekturalen Thema zu tun.)





Eine vielfach gezeigte Szene ist der sogenannte Weiberstreit um eine Männerhose. Dabei sieht es so aus, als stritten die Damen zwar untereinander, doch eine schlägt mit dem Kehrichtbesen auf die Hose, die von oben an einem Haken ins Bild hängt, andere reißen daran. „Das Motiv geht mindestens ins Fünfzehnte Jahrhundert zurück und ist in ganz Europa verbreitet; es wird von einer graphischen Vorlage auf die Bienenstöcke übertragen worden sein.“ So heißt es im Katalog. Übrigens gibt es als Bild auch die Tiere des Waldes, die den toten Jäger tragen. Es zeigt sich, dass was immer an Geschichten kursierte, dort gemalt worden ist. Der geografische Raum erstreckt sich ab südlich Klagenfurts bis Ljubljana, das noch innerhalb des Verbreitungsgebietes liegt. 3.000 Brettchen seien heute erhalten, in Wirklichkeit müssten es aber, da man gelegentlich die Anzahl der Stöcke gezählt habe, um die 50.000 gewesen sein. So schätzt man im Katalog.




Schließlich ist noch vom Leben der Bienen allgemein und speziell in Slowenien die Rede. Die in Süddeutschland heimische Krainerbiene oder Kärntnerbiene, die carnica-Rasse, soll in dieser Region ihren Ursprung haben. Damals begann man allerdings auch, andere Rasse nach Slowenien zu importieren, beispielsweise die Italienerbiene.
Auf der Schwelle ins Zwanzigste Jahrhundert hinein tendierte man, wird im Katalog geschrieben, zur Standardisierung der Stöcke. Man neigte größeren Wabenmaßen zu und suchte entsprechend die ideale Anzahl. Hier kam dem „deutschen Bienenzuchtfachmann Gerstung“ eine besondere Rolle zu, da man sich kurzfristig auf das von ihm vertretene Format einigte. Das Gerstungmaß beträgt 41 Zentimeter mal 26 Zentimeter. Gerstung fasste das Bienenvolk erstmals als einen Organismus höherer Ordnung auf. Er ging davon aus, dass dessen Funktionen durch den Futtersaftstrom reguliert werden. Wenig später wurde er von einem slowenischen Züchter abgelöst. Der behielt zwar das Wabenmaß bei, änderte aber die Aufteilung der Stöcke und setzte sich in der südslawischen Region, da er die Hinterbehandlungsbeute wieder einführte, vor allem bei den Wanderimkern durch.

Daneben betrieben die einfachen Imker die oben beschrieben Kastenbeuten mit den bemalten Stirnbrettchen weiter, ohne sich um die neuesten Entwicklungen der Großimker zu scheren. Die Krainer Biene stand regional zur Verfügung. Man musste sich nicht um deren Reinzucht kümmern. Auch ausbastardisierte Völker taten ihren Dienst. Der Beginn des ersten Weltkrieges, heißt es, bildete dort eine Zäsur. Die letzte bekannte Malerei stammt aus dem Jahr 1912.